4. Polen
Aus mehreren Gründen hinkte die Entwicklung des mittelalterlichen Polen hinter Ländern wie England und Frankreich her. Eine starke, feudalistisch zu nennende Monarchie ohne parlamentarische Institutionen gab es nur im 14. Jahrhundert, besonders unter Kasimir dem Großen (1333 bis 1370). Unmittelbar nach seinem Tod führten Wechsel in der Dynastie und andere Faktoren zu einer schnellen Machtentfaltung der adligen Magnaten und dann auch des niederen Adels, so daß bis 1572 der Prozeß, den König auf einen Strohmann zu reduzieren und die nichtadligen Stände von der politischen Macht auszuschließen, nahezu beendet war. In den folgenden beiden Jahrhunderten entwickelte sich Polen infolge einer fehlenden Regierung zu der bekannten Anarchie. Dies ging soweit, daß ein Adliger eine Gerichtsentscheidung nur als Lizenz zur Führung eines Privatkriegs zur Durchsetzung des Spruches (es gab keine andere Möglichkeit zur Durchsetzung) betrachtete und im 18. Jahrhundert Fehden zwischen den großen Adelshäusern mit Privatarmeen ausgetragen wurden, die eine Mannschaftsstärke von mehreren zehntausend hatten und größer als die lächerlichen Kräfte der offiziellen Armee der Adelsrepublik waren. Begleitet wurde dieser Prozeß von einer Verschlechterung der sozialen Stellung der polnischen Bauern (die im Frühmittelalter frei waren) bis zu reiner Leibeigenschaft, die sich kaum noch von Sklaverei unterschied und sicherlich die härteste in ganz Europa war. Der Wunsch des Adels in den benachbarten Ländern, die Macht des polnischen Pan über seine Bauern zu besitzen (einschließlich der Macht über Leben und Tod ohne das Recht auf Berufung) förderte die territoriale Expansion Polens. Am schlechtesten war die Lage in den "östlichen" Ländern Polens (Weißrußland und Ukraine), die von gerade in die Leibeigenschaft geratenen Bauern kolonisiert und besiedelt wurden. Eine kleine, jedoch hochrangige Anzahl von Juden lebte augenscheinlich seit dem 10. Jahrhundert in Polen. Eine jüdische Einwanderung in größem Umfang begann im 13. Jahrhundert und erreichte unter Kasimir dem Großen den Höhepunkt. Gleichzeitig verschlechterte sich die Lage der Juden in West- und dann in Mitteleuropa. Über das polnische Judentum in dieser Zeit ist nur wenig bekannt. Doch mit dem Niedergang der Monarchie im 16. Jahrhundert, und zwar besonders unter Sigismund I. (1506 bis 1548) und seinem Sohn Sigismund II. August I. (1548 bis 1572), erlangten die Juden schlagartig soziale und politische Bedeutung, begleitet wie üblich mit einem höheren Grad an Autonomie. Dies war jene Zeit, in der die Juden Polens ihre umfangreichsten Privilegien erhielten, was in der Schaffung der bekannten Vierländersynode, einem sehr wirksamen autonomen jüdischen Organ zur Herrschaft und Rechtsprechung über alle Juden in den vier Landesteilen Polens, gipfelte. Eine ihrer vielen wichtigen Aufgaben bestand darin, sämtliche Steuern von Juden im ganzen Land einzuziehen, einen Teil des Ertrages für eigene Zwecke und für die örtlichen jüdischen Gemeinden abzuzweigen und den Rest dem staatlichen Schatzamt zu übergeben. Welche soziale Rolle spielte nun das polnische Judentum vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis 1795? Mit dem Niedergang der königlichen Macht übernahm der Adel sehr schnell die Aufgabe, die der König hinsichtlich der Juden ausübte, und zwar mit langandauernden und tragischen Ergebnissen für die Juden selbst und für die einfachen Leute in der polnischen Adelsrepublik. In ganz Polen nutzten Adlige die Juden als Mittelsmänner, die wirtschaftliche Kraft der ohnehin schon schwachen königlichen Städten zu untergraben. Unter den Ländern der westlichen Christenheit unterlag nur in Polen der Grundbesitz eines Adligen in einer königlichen Stadt nicht den Gesetzen der Stadt und den Satzungen der Zünfte. In den meisten Fällen setzten die Adligen ihre jüdischen Abhängigen in diesen Landbesitz ein und schufen somit den Grund für einen permanenten Konflikt. Die Juden waren in der Regel "siegreich" in dem Sinne, als die Städte sie weder unterdrücken noch vertreiben konnten. Bei den häufigen Volksaufständen verloren Juden ihr Leben (und häufiger ihren Besitz), während die Adligen die Profite einstrichen. Ähnliche oder noch schlechtere Folgen hatte die häufige Verwendung von Juden als kommerzielle Vermittler des Adels: Sie brauchten die meisten polnischen Abgaben und Zölle nicht zu bezahlen, was ein Nachteil für die polnischen Bürger war. Die am andauerndsten und tragischsten Folgen zeigten sich in den östlichen Provinzen Polens, und zwar etwa im Bereich östlich von der heutigen Grenzen sowie in fast dem gesamten Gebiet der Ukraine bis hin zur russischen Sprachgrenze (bis 1667 reichte die polnische Grenze weit östlich über den Dnjepr hinaus, so daß z.B. Poltawa in Polen lag). In diesem großen Gebiet gab es nahezu keine königlichen Städte. Die Städte wurden von den Adligen gegründet, gehörten ihnen und wurden nahezu ausschließlich von Juden besiedelt. Bis 1939 betrug ihr Bevölkerungsanteil in vielen polnischen Städten östlich des Bug etwa 90%. Dieses demographische Phänomen war noch ausgeprägter in jenem Gebiet des zaristischen Rußland, das ehemals zu Polen gehörte und als jüdischer Pale-Distrikt bekannt ist. Außerhalb der Städte waren in ganz Polen, und hier besonders im Osten, viele Juden als direkte Bewacher und Unterdrücker der geknechteten Bauernschaft beschäftigt - als Verwalter ganzer Rittergüter (ausgestattet mit der vollständigen Hausgewalt des Eigentümers) oder als Pächter bestimmter feudaler Monopole, wie Mühlen, Bäckereien, Wirtshäuser oder Destillerien (mit dem Recht, bewaffnet die Bauernhäuser nach illegal gebranntem Alkohol zu durchsuchen) sowie als Eintreiber feudaler gewohnheitsrechtlicher Abgaben aller Art. Kurz gesagt, im östlichen Polen waren die Juden unter der Herrschaft des Adels (und der feudalisierten Kirche, die ausschließlich vom Adel gebildet wurde) sowohl unmittelbare Ausbeuter der Bauernschaft als auch nahezu die einzigen Stadtbewohner. Zweifellos erhielten die Gutsherren auf diese oder jene Weise die von den Juden den Bauern abgepreßten Profite. Zweifellos gab es auch eine starke Unterdrückung und Unterjochung der Juden durch den Adel. Die historischen Berichte erzählen so manche erschreckende Geschichte über die Nöte und die Demütigungen, die der Adel "seinen Juden" zufügte. Wie wir aber schon gesehen haben, litten die Bauern am schwersten unter der Unterdrückung sowohl durch die Gutsherren als auch durch die Juden. Man kann annehmen, daß außer während der Bauernaufstände die Bauern von der vollen Wucht der jüdischen religiösen Gesetze gegen Nichtjuden getroffen wurden. Wie wir im nächsten Kapitel erfahren werden, wurden diese Gesetze nur dann zeitweilig außer Kraft gesetzt oder abgeschwächt, wenn man befürchtete, sie könnten gefährliche Feindschaft gegen die Juden wecken. Die Feindseligkeit der Bauern konnte man jedoch solange als wirkungslos vernachlässigen, als sich der jüdische Gutsverwalter hinter dem Rücken seines Gutsherrn verkriechen konnte. Bis zur Entstehung moderner Staaten blieb die Situation gleich. Zu dieser Zeit war Polen schon auseinandergefallen. Deshalb war es das einzige große Land im westlichen Christentum, aus dem die Juden nie vertrieben wurden. Eine neue Mittelklasse konnte aus der vollständig versklavten Bauernschaft nicht entstehen. Das alte Bürgertum lebte nur in begrenzten Gebieten, war wirtschaftlich schwach und deshalb machtlos. Die Lage verschlechterte sich insgesamt, hatte jedoch keine grundlegende Änderung zur Folge. Die innere Lage der
jüdischen Gemeinden entwickelte sich auf ähnliche
Art und Weise. In der Periode von 1500 bis 1795, einer Zeit
des ausgeprägtesten Aberglaubens in der Geschichte des
Judaismus, übertraf das polnische Judentum an
abergläubischer Furcht und Fanatismus alle anderen
jüdischen Gemeinschaften. Die beträchtliche Macht
der jüdischen Selbstverwaltung wurde immer stärker
ausgeübt, um alle originellen und neuen Gedanken zu
unterdrücken, die schamlose Ausbeutung der
jüdischen Armen durch die jüdischen Reichen und
die Rabbiner zu fördern und die Rolle der Juden bei der
Unterdrückung der Bauern im Dienste des Adels zu
rechtfertigen. Auch hier fand sich mit Ausnahme einer
Befreiung von außen kein Ausweg. Im Polen vor 1795, wo
die Juden eine größere soziale Rolle als jede
andere klassische Diaspora spielten, zeigt sich besser als
in jedem anderen Lande der Bankrott des klassischen
Judaismus. |
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Israel Shahak:
(Online)
"Jüdische Religion, Jüdische Geschichte":
Inhaltsverzeichnis:
A/ 1- Israel - ein Utopia für Auserwählte?
- 2- Definition des Judenstaates
- 3- Die Ideologie vom "erlösten" Land
- 4- Israelischer Expansionismus
- 5- Ein geschlossenes Utopia?
B/ 6- Vorurteile und Verfälschungen
- 7- Befreiung von außen
- 8- Hindernisse für das Verstehen
- 9- Totalitäre Geschichte
- 10- Verteidigungsmechanismen
- 11- Die Täuschung geht weiter
C/ 12- Orthodoxie und Interpretation
- 13- Interpretation der Bibel
- 14- Aufbau des Talmud
- 15- Die Dispensationen cc1-
- 16- Verzinsung cc2-
- 17- Das Sabbat-Jahr cc3-
- 18- Melken am Sabbat cc4-
- 19- Vermischte Feldfrüchte cc5-
- 20- Gesäuerte Substanzen cc6-
- 21- Der Sabbat-Goj
- 22- Soziale Aspekte der Dispensationen
D/ 23- Die Bürde der Geschichte
- 24- Grundzüge des klassischen Judaismusda1-
- 25- England, Frankreich und Italien da2-
- 26- Moslemische Länder da3-
- 27- Das christliche Spanien da4-
- 28- Polen
- 29- Antijüdische Verfolgungen
- 30- Der moderne Antisemitismus
- 31- Die zionistische Reaktion
- 32- Konfrontation mit der Vergangenheit
E/ 33- Gesetze gegen Nichtjuden
- 34- Mord und Völkermord
- 35- Rettung von Leben
- 36- Entheiligung des Sabbats zur Lebensrettung
- 37- Sexuelle Straftaten
- 38- Status
- 39- Geld und Eigentum ef1-
- 40- Geschenke ef2-
- 41- Zinsforderungen ef3-
- 42- Verlorenes Eigentum ef4-
- 43- Täuschung im Geschäftsleben ef5-
- 44- Betrug ef6-
- 45- Diebstahl und Raub
- 46- Nichtjuden im Land Israel
- 47- Schmähungen
- 48- Die Einstellungen zu Christentum und Islam
F/ 49- Politische Konsequenzen
- 50- Jerusalem und die Juden
- 51- Rezension von Benjamin Beit-Hallahmi
- 52- Leserbriefe
- 53- Ein Exzeß an Demagogie
- 54- Ein spanisches Beispiel
- 55- Israelischer Terrorismus
- 56- Die Halacha unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Mord
- 57- Wer ist Demokrat im Nahen Osten?
- 58- Scharons Imperium
- 59- Mord gemäß der Halacha
- 60- Das Gleichnis gilt
- 61- Gebete auf verworrenen Wegen
- 62- Das iranische Modell
- 63- Maskerade von ausgestopften Bälgern als menschliche Wesen
- 64- Beste Absicht?
- 65- Ist es noch dieselbe Arbeiterpartei?
- 66- eres' Unterstützung der Siedler
- 67- Woraus besteht eine Öffentlichkeit?
- 68- Organspenden von Nichtjuden
- 69- Der Weg zu absoluter Korruption
- 70- Ein Fall einer unreinen Adresse
- 71- Der Rassismus von Arthur Ruppin
- 72- Sehnsucht nach Wiedererrichtung des Königreichs Davids und Salomos
- 73- Was will Gott wirklich?
- 74- Gehirnwäsche
- 75- Wer darf aus den "Staatsländereien" Nutzen ziehen?
- 76- Wie die religiösen Fanatiker in Ägypten
- 77- Ein Chomeini-Staat
- 78- Das Schweigen der israelischen Juden
- 79- Vier Hauptmerkmale des Apartheid-Regimes
- 80- Professor Gabison irrt
- 81- Ein grober Bruch der militärischen Disziplin
- 82- Es kann hier geschehen
- 83- Der richtige Name ist "Genozid" und nicht "Sho'a"
- 84- Der Verrat der [israelischen] Medien und Intellektuellen
- 85- Sabra und Schatila Nr. 2
- 86- Die [zionistische] Arbeiterbewegung ist nicht sozialdemokratisch
- 97- "Diese Missetat soll euch nicht vergeben werden, bis ihr sterbet"
- 88- Die Ideen der Chabad-Bewegung sind noch verwerflicher als diejenigen von Kahane
- 89- Die "Grundsatzerklärung" erkennt nicht die Rechte der Palästinenser an
- 90- Nichtmoderater physischer Druck
- 91- Nur zum Nutzen der Juden
- 92- Ein Fall von Vorurteilslosigkeit aus dem 11. Jahrhundert
- 93- Das jüdische Religionsgesetz ist inhuman achwort von Edward W. Said
- 94- Die
Vita von Israel Shahak