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Israel Shahak:
 Jüdische Geschichte,
Jüdische Religion
(Book online)
14



Aufbau des Talmud



Es sollte deshalb von vornherein klar sein, daß die Quelle der Autorität für alle Handlungen des klassischen (und heutigen orthodoxen) Judaismus, d.h. die Bestimmung der Grundlage seiner rechtlichen Struktur, der Talmud oder - noch genauer der sogenannte babylonische Talmud [Anm.d.Übers.: Babli] - ist, während es sich beim Rest der talmudischen Literatur (einschließlich des sogenannten jerusalemischen oder palästinensischen Talmud [Anm.d.Übers.: Jeruschalmi] um eine ergänzende Autorität handelt.

Wir können hier keine ausführliche Beschreibung des Talmud und der talmudischen Literatur geben, sondern müssen uns auf einige Hauptpunkte beschränken, die wir für unser Thema brauchen. Der Talmud steht grundsätzlich aus zwei Teilen. Da ist zunächst die Mischna, ein knapper Gesetzestext aus sechs Bänden, der jeweils in mehrere hebräisch geschriebene Traktate unterteilt ist und in Palästina etwa 200 n. Chr. aus den weitaus umfangreicheren (und größtenteils mündlich überlieferten) Gesetzestexten abgefaßt wurde, die während der vergangenen zwei Jahrhunderte zuvor entstanden. Der zweite und bei weitem wichtigere Teil ist die Gemara, eine voluminöse Aufzeichnung von Diskussionen über und um die Mischna. Weiterhin gibt es zwei, grob gesagt ähnliche, Ausgaben der Gemara, von denen eine in Mesopotamien ("Babylon") zwischen 200 und 500 n. Chr. und der andere in Palästina zwischen etwa 200 n. Chr. und einem unbekannten Datum lange vor 500 entstand. Der babylonische Talmud (d.h. die Mischna einschließlich der mesopotamischen Gemara) hat einen weitaus größeren Umfang und eine bessere Gliederung als der palästinensische. Dieser allein wird deshalb als endgültig und maßgebend betrachtet. Zusammen mit einer Reihe von Sammlungen, bekannt als "talmudische Literatur" mit Texten, die die Herausgeber der beiden Talmuds ausgelassen haben, wird dem jerusalemischen (palästinensischen) Talmud ein entschieden niedrigerer Status als rechtliche Autorität zugesprochen.

Im Gegensatz zur Mischna ist der Rest des Talmuds und der talmudischen Literatur in einer Mischung aus Hebräisch und Aramäisch abgefaßt, wobei Aramäisch im babylonischen Talmud vorherrscht. Außerdem beschränkt der sich nicht nur auf rechtliche Angelegenheiten. Ohne erkennbare Ordnung oder einsehbaren Grund können die rechtlichen Abhandlungen plötzlich abbrechen, was als "Erzählung" (Haggada) bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um ein Gemisch von Geschichten und Anekdoten über Rabbis oder das gemeine Volk, biblische Persönlichkeiten, Engel, Dämonen, Zauberei und Wunder. Diese erzählenden Passagen haben im Laufe der Zeit zwar einen großen Einfluß auf den Judaismus gehabt, wurden aber immer (sogar vom Talmud selbst) als zweitrangig betrachtet. Am bedeutendsten für den klassischen Judaismus sind die rechtlichen Teile des Textes, und hier insbesondere die Behandlung der Fälle, die man als problematisch betrachtet. Der Talmud selbst definiert die verschiedenen Kategorien von Juden in steigender Folge: Auf der untersten Stufe stehen die ganz Unwissenden, dann kommen diejenigen, die nur die Bibel kennen, anschließend solche, die mit der Mischna oder der Haggada vertraut sind. Die oberste Klasse bilden die Leute, die studiert haben und in der Lage sind, den rechtlichen Teil der Gemara zu diskutieren. Nur letztere haben die Fähigkeit, ihre Mitjuden in allen Dingen zu führen.

Das Rechtssystem des Talmud läßt sich als allumfassendes, streng autoritäres und dennoch zur unendlichen Weiterentwicklung befähigtes System beschreiben, ohne daß sich aber die dogmatischen Grundlagen ändern können. Es behandelt jeden persönlichen und sozialen Lebensbereich der Juden im beträchtlichen Umfang und sieht Zwangsmaßnahmen und Strafen für jede nur denkbare Sünde und Verletzung der Vorschriften vor. Die Grundvorschriften für jedes Problem sind dogmatisch angegeben und können nicht in Frage gestellt werden. Was jedoch möglich ist und auch ausführlich diskutiert wird, ist die Verbesserung und praktische Festlegung dieser Regeln. Dazu einige Beispiele.

"Keine Arbeit verrichten" am Sabbat. Zur Definition des Wortes Arbeit sind genau 39 Arten der Arbeit aufgeführt, nicht mehr und nicht weniger. Das Kriterium zur Aufnahme in diese Liste steht in keinem Zusammenhang mit der Schwierigkeit der Aufgabe, sondern ist einfach eine Sache der dogmatischen Definition. Eine verbotene Art der "Arbeit" ist das Schreiben. Hierbei stellt sich die Frage, wieviele Zeichen man schreiben muß, um die Sünde des Schreibens an Sabbat zu begehen? (Antwort: zwei). Bleibt die Sünde ungeachtet dessen, welche Hand man benutzt, dieselbe? (Antwort: nein). Um aber jemanden gegen solch einen Sündenfall zu schützen, ist das erste Verbot des Schreibens mit einer zweiten Vorschrift umgeben, die es verbietet, ein Schreibgerät an Sabbat überhaupt zu berühren.

Eine weitere prototypische am Sabbat verbotene Arbeit ist das Mahlen von Getreide. Daraus läßt sich analog ableiten, daß jede Art des Mahlens, was immer es auch sei, verboten ist. Und dieses Verbot ist wiederum von einer Vorschrift umgeben, die Einnahme von Medizin an Sabbat verbietet, (ausgenommen, jüdisches Leben ist gefährdet), um nicht in die Sünde zu verfallen, ein Medikament zu zermahlen. Man weist vergeblich darauf hin, daß in der modernen Zeit solche Gefahr nicht vorhanden ist (und existierte als solche in vielen Fällen nicht einmal in talmudischen Zeiten). Und als Zaun um den Zaun verbietet der Talmud ausdrücklich die Einnahme flüssiger Medizin oder wiederbelebender Getränke am Sabbat. Was festgeschrieben ist, bleibt für immer festgeschrieben, wie absurd es auch sein mag. Tertullian, einer der ersten Kirchenväter, schrieb: "Ich glaube es, weil es absurd ist.". Dies kann als Motto für den weitaus größten Teil der talmudischen Vorschriften dienen, wobei die Worte "Ich glaube es" durch "Ich mache es" zu ersetzen sind.

Das folgende Beispiel zeigt noch besser, welchen Grad an Absurdität dieses System erreicht hat. Eine am Sabbat verbotene prototypische Arbeit ist das Ernten. Dies führt durch Analogieschluß weiter bis hin zu dem Verbot, den Ast eines Baumes abzubrechen. Somit ist es verboten, ein Pferd (oder anderes Tier) zu reiten, um gegen die Versuchung gefeit zu sein, einen Ast zum Schlagen des Tiers abzubrechen. Das Argument, man habe schon eine fertige Peitsche oder man wolle nur dort reiten, wo es keine Bäume gibt, ist nutzlos. Was verboten ist, bleibt für immer verboten, was jedoch noch ausgedehnt und strenger gehandhabt werden kann: In der heutigen Zeit ist Fahrradfahren an einem Sabbat verboten, da dies dem Reiten eines Pferdes ähnlich ist.

Mein letztes Beispiel zeigt, wie man dieselben Methoden in rein theoretischen Fällen benutzt, für die es in der Realität keine erkennbare Anwendung gibt. Während der Existenz des Tempels durfte der Hohepriester nur eine Jungfrau heiraten. Obwohl es während nahezu der gesamten talmudischen Zeit weder Tempel noch Hohepriester gab, widmet der Talmud eine seiner besonders verworrenen (und bizarren) Abhandlungen der genauen Definition des Begriffs "Jungfrau", die ein Hohepriester heiraten darf. Wie steht es mit einer Frau, deren Hymen durch einen Unfall durchstoßen wurde? Besteht ein Unterschied darin, ob der Unfall vor oder nach dem Alter von drei Jahren stattfand? Wurde er durch Metall oder Holz verursacht? Kletterte sie auf einen Baum? Und wenn ja, kletterte sie herauf oder herab? Geschah es auf natürliche oder unnatürliche Weise? All dies und vieles andere wird lang und breit erörtert. Und jeder Gelehrte im klassischen Judaismus mußte Hunderte solcher Probleme meistern. Große Gelehrte maß man an ihrer Fähigkeit, diese Probleme weiter zu entwickeln, da es, wie schon die Beispiele zeigten, immer einen Spielraum für weitere Entwicklungen gab (wenn auch nur in eine Richtung) und solche Entwicklungen tatsächlich nach der endgültigen Abfassung des Talmud stattfanden.

Es gibt jedoch zwei große Unterschiede zwischen der talmudischen (die um 500 endete) und der Zeit des klassischen Judaismus (von etwa 800 an). Das im Talmud angegebene geographische Gebiet ist beschränkt, wogegen die angegebene jüdische Gemeinschaft eine "vollständige" Gemeinschaft ist, deren Grundlage der jüdische Ackerbau bildete. (Dies gilt für Mesopotamien und für Palästina.). Obwohl damals Juden im ganzen Römischen Reich und in vielen Gebieten des sassanidischen Reiches lebten, geht aus dem talmudischen Text klar hervor, daß ihre Zusammensetzung über ein halbes Jahrhundert hinweg ausschließlich lokale Bedeutung hatte. Keine Gelehrten aus anderen Ländern als Mesopotamien und Palästina waren Teil dieser Gemeinschaft. Auch gibt der Text nicht an, welche sozialen Bedingungen außerhalb dieser beiden Gebiete herrschten.

Wenig ist über die soziale und religiöse Lage der Juden in den dazwischenliegenden drei Jahrhunderten bekannt. Jedoch seit 800 (ausführlicherere historische Informationen stehen wieder zur Verfügung) stellen wir fest, daß sich die drei oben erwähnten Merkmale umkehrten. Es bestätigt sich, daß der babylonische Talmud (und im geringerem Maße auch der Rest der talmudischen Literatur) als maßgeblich galt und in allen jüdischen Gemeinden studiert und weiterentwickelt wurde. Gleichzeitig wurde die jüdische Gemeinschaft einer tiefgreifenden Änderung unterzogen: Welche Änderung das auch sein mag und wo sie stattfand, sie betraf jedenfalls nicht die Bauern.

Das sich aus dieser Änderung ergebende soziale System wird in Kapitel IV ("IV Die Bürde der Geschichte") behandelt. Hier beschreiben wir, wie der Talmud den Bedingungen des klassischen Judaismus angepaßt wurde, im geographischen Sinne etwas weiter und im sozialen Sinne etwas enger und mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem, was in meiner Sicht die wichtigste Methode der Anpassung war, nämlich auf den Dispensationen

   
Folgende Seite:
Die Dispensationen

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Israel Shahak:
(Online)
"Jüdische Religion, Jüdische Geschichte":
Inhaltsverzeichnis: 

A/ 1- Israel - ein Utopia für Auserwählte?

B/ 6- Vorurteile und Verfälschungen

C/ 12- Orthodoxie und Interpretation

D/ 23- Die Bürde der Geschichte

E/ 33- Gesetze gegen Nichtjuden

F/ 49- Politische Konsequenzen

 
 

"Wenn ich ein arabischer Führer wäre, würde ich nie einen Vertrag mit Israel unterschreiben. Es ist normal; wir haben ihr Land genommen. [...] Sie sehen nur eine Sache: Wir kamen und haben ihr Land gestohlen. Warum sollten sie das akzeptieren?"

- David Ben-Gurion, erster israelischer Premierminister

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