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Die
islamische Welt
Die arabische Welt, der ich entstamme, hat
vor allem gemeinsame kulturelle Wurzeln und
schöpft aus einem gemeinsamen Erbe, einer
sehr tiefgründigen Geisteswelt, die auf der
islamischen Religion fusst. Doch ist die vom
Islam gespielte Rolle keinesfalls rein
religiöser Art; der Islam ist ein
historischer Faktor, der auf kulturellem und
ideologischem Gebiet ganz entscheidend zur
Entstehung einer "arabisch-islamischen"
Nationalität beigetragen hat.
Zu dieser "arabisch-islamischen
Nationalität", auch "arabische Welt"
genannt, gehört: l) Wer eine Variante der
arabischen Sprache spricht und diese
gleichzeitig als seine "natürliche" Sprache
betrachtet; dies kann auch für Leute
gelten, die gar nicht arabisch können, wie
zum Beispiel viele Berber. 2) Wer als sein Erbe
die Geschichte und die kulturellen Merkmale des
Volkes betrachtet, das sich selbst als das
arabische bezeichnet und von anderen so genannt
wird. Zu diesen kulturellen Merkmalen
gehört seit dem 7. Jahrhundert in
allererster Linie die muselmanische Religion,
die gewissermassen die Seele des Arabertums
darstellt. 3) Wer seine arabische Identität
zurückfordert und sich deren bewusst
ist.
Die islamisch-arabische Welt setzt sich aus
den Völkern jener Länder zusammen,
deren Verfassung ihre Zugehörigkeit zu
dieser Welt festlegen oder die Mitgliedstaaten
der Arabischen Liga sind und deren Verträge
unterzeichnet haben. Kern der islamischen Nation
(wir Moslems verwenden diesen Begriff stets im
Singular, auch wenn ein Nichtmoslem eher den
Plural benutzen würde) ist die
muselmanische Religion, die gleichzeitig die
entscheidende Inspirationsquelle für ihre
politische Ideologie bildet. Ganz ungeachtet der
künstlichen Grenzen bilden alle arabischen
Länder einen ideologischen und politischen
Block mit einer gemeinsamen
arabisch-muselmanischen Zivilisation.
In der arabischen Welt wird der Islam als
göttliche Offenbarung über den
Menschen, die Welt und Gott und als
köstlicher Schatz betrachtet, der allen
Arabern gemeinsam ist. Sogar christliche Araber
anerkennen ihn als solchen und huldigen dem
Propheten Mohammed als dem Einiger der Araber
und deren geistigem Erwecker. Der Islam
lässt sich als sekuläre Religion
einstufen, wenn das Wort "sekulär"
bedeutet, dass sich die Massen ihrer
Verantwortung für ihre Geschichte bewusst
werden. Immer und immer wieder wird im Koran
betont, wie wichtig es ist, in der
Volksgemeinschaft Verantwortungsbewusstsein zu
wecken.
Die allgemeine Tendenz des
arabisch-muselmanischen Nationalismus ist
revolutionär, weil er defensiv wie offensiv
gegen widrige äussere Umstände und
gegen die koloniale Vorherrschaft kämpfen
muss, sei diese nur kapitalistischer oder
kommunistischer Natur. So werden die
Strömungen, die aus de Sehnsucht der Massen
entstehen und welche die Grundlage einer
völkischen politischen Ideologie bilden,
aufgefangen und kanalisiert und im Sinne des
Islam verfeinert und ausgearbeitet. Dieser
prägt die Worte und Taten der
Herrschenden.
Die heutigen arabischen Staaten lassen sich
nicht als Nationalstaaten bezeichnen. Es gibt
nur eine islamische Nation, die "Umma". Laut der
heutigen arabischen und islamischen Ideologie
wäre der einzige vollständig legitime
Nationalstaat derjenige, der die Gesamtheit der
islamischen Nation umfasst. Die Loyalität
des rechtgläubigen Musel- manen gilt viel
eher dem Idealstaat, der noch zu schaffen ist,
als dem real existierenden Staat.
Dem Koran zufolge ist ein Moslem nur dann zur
Treue dem Staat gegenüber verpflichtet,
wenn dieser eine auf echten islamischen
Grundsätzen beruhende, legitime politische
Organisation ist, die keine Grenzen zwischen
Muslimen anerkennt. Anderenfalls herrscht
Unterdrückung (özulmö), die
Aufruhr, d.h. Revolution, rechtfertigt. Die vom
religiösen Bekenntnis ausgehende Kraft
lässt den provisorischen, im Grunde
illegitimen Charakter der zurzeit hoffnungslos
zersplitterten islamischen und arabischen
Staaten in noch grellerem Lichte erscheinen und
schwächt die Loyalität der
Gläubigen diesen gegenüber.
Alle heutzutage in der arabischen Welt
herrschenden Regime sind illegitim, versuchen
sich aber mit allerlei heuchlerischen Mitteln
den Anschein islamischer Legitimität zu
geben.
Ausserdem kann man gegenwärtig, und dies
ist ein hochinteressantes Phänomen, zwei
Dinge beobachten, die zwar seit jeher existiert
haben, jedoch unter den obwaltenden
Umständen besondere Bedeutung erlangen.
Zunächst ist die äusserst grosse
politische und soziale Vitalität des Islam
zu beobachten, und dann lässt sich
erkennen, wie zielstrebig dieser in neuster Zeit
seinen Wiedereintritt in die Geschichte probt -
als Subjekt und nicht als Objekt. Dabei
verzichtet der Islam darauf, sich angestrengt
ein modernistisches Gesicht zu geben, und er
hält es auch für ganz unnötig,
sich mit fremden Denkweisen entlehnten
intellektuellen Begründungen zu
rechtfertigen. Seine Rechtfertigung liegt in
sich selbst, in seinen eigenen heiligen
Texten.
Professor Jacques Berque hebt hervor: "Der
Islam kann nur Träger einer Utopie sein,
der Utopie von der Wiederherstellung der
Eintracht zwischen Mensch und Welt... Meiner
Auffassung nach liegt die Macht der islamischen
und arabischen Welt nicht in ihrem l,
sondern in der Stärke ihrer Identität,
oder, wenn man so will, in der Stärke ihrer
Authentizität. Will man wirklich begreifen,
was gegenwärtig in der islamischen Welt
abläuft, so muss man alle der
Sozialwissenschaft entlehnten Kategorien
abstreifen, welche uns dazu zwingen, in
politischen oder materialistischen Begriffen zu
denken. Hingegen muss man die fundamentale
Dimension des Imaginären wieder zu Ehren
kommen lassen, und da sich der Islam in vollem
Umbruch befindet, darf man keinesfalls aus den
Augen verlieren, dass es sich in erster Linie um
eine kulturelle Revolution handelt.ö
Die "Modernität", ob sie sich nun mit
"stlichen oder mit westlichen Federn
schmückt, hat sich als blosse
Nachäffung entpuppt, als charakteristische
Form kultureller, intellektueller und
wirtschaftlicher Abhängigkeit, nicht zu
verteidigen und ungemein trügerisch. Man
kann die muselmanische Revolution ganz
unmöglich verstehen, wenn man den Islam,
welcher deren Seele und Volksideologie ist,
nicht vorher studiert und begriffen hat.
Im Westen vermischen viele die Begriffe
Moslem und Araber; so wird der Iran gelegentlich
als "arabischer Staat" bezeichnet, was
natürlich Unsinn ist. Man braucht
keinesfalls Araber zu sein, um Moslem zu sein.
Die islamische Nation (öUmmaö), die
sich ab dem 7. Jahrhundert herauskristallisiert
hat, fusst in erster Linie auf der arabischen
Kultur, die wiederum auf dem Islam beruht.
Die relativ wenigen ethnischen Araber, welche
anfangs an der Verbreitung des Islam beteiligt
waren, gingen bald in den neuen lokalen
Gesellschaften auf. Was man heute als "arabische
Welt" bezeichnet, ist eine Schöpfung des
Islam und nicht eines arabischen Kolonialismus.
Die arabische Welt umfasst jene islamischen
Staaten, in denen das Arabische Nationalsprache
ist. Die anderen islamischen Staaten, von der
Türkei bis Pakistan, vom Iran bis hin nach
Indonesien, haben ihre eigenen Sprachen.
Die ca. 200 Millionen Araber, die in den
Staaten von Marokko bis zum Irak leben, bilden
in der eine Milliarde Menschen umfassenden
islamischen Welt nur eine Minderheit. Da
Arabisch die Sprache des Koran ist (man
verrichtet seine Gebete in dieser Sprache), ist
es für jeden Muselmanen eine heilige
Sprache. Der Koran als heilige Schrift wird im
Gegensatz zur Bibel nicht übersetzt. Die
dennoch existierenden Koranübersetzungen
gelten nicht als heilige Texte, sondern
lediglich als Deutungen.
Jeder Moslem muss den Koran auf arabisch
lesen und rezitieren. Es handelt sich um den
völlig unveränderten, im 7.
Jahrhundert der westlichen Zeitrechnung
niedergeschriebenen Originaltext. Natürlich
braucht man nicht Arabisch zu können, um
Moslem zu sein. Meine Mutter beispielsweise kann
kein Arabisch. Sie hat nur einige Verse aus dem
Koran auswendig gelernt, die ausreichen, um ihre
Gebete zu sprechen.
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