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Die ersten
Jugendjahre
Als ich das Licht der Welt erblickte, waren
meine Eltern Bauern, doch reichte der Ackerbau
nicht aus, um der neuen Generation eine
würdige Existenz zu bieten, so dass mein
Vater, M'barek ben Moussa ebenfalls nach
Casablanca zog. Ich habe keine Ahnung, in
welchem Jahr das war, und ich weiss nicht
einmal, ob er zu Hause war, als ich geboren
wurde.
Mein Geburtsort war das Dorf Douar Ait-Mar,
in der Gegend des Tahalastammes, unweit von
Tafraoute im Anti-Atlas. Mein Geburtsjahr mag
1946 gewesen sein, aber dies ist nicht sicher.
Würde ich meine Mutter Fatima heute nach
dem Datum fragen, so wüsste sie kaum zu
antworten. Sie ist Analphabetin und hat nie im
Leben einen Kalender besessen. Das einzige, was
zählt, ist die Jahreszeit; wichtig ist, ob
es Winter oder Sommer ist. Jede Jahreszeit kehrt
wieder, sie braucht nicht datiert zu werden.
Für meine Mutter ist die Zeit ein
Kreislauf, kein Fortschreiten. Will sie einen
Zeitpunkt näher bestimmen, so bezieht sie
sich auf ein bedeutsames Ereignis, das im
Gedächtnis der Menschen haften geblieben
ist, eine Seuche beispielsweise oder eine
Naturkatastrophe.
Dass meine Mutter weder lesen noch schreiben
kann, ist in Marokko durchaus nichts
Aussergewöhnliches. Sie hat ihr
Heimatgebiet nie im Leben verlassen; für
sie endet die Welt am Horizont des nächsten
Berges. Ihre Welt umfasst das Dorf, das
Nachbardorf und den Stamm. Sobald ich
kräftig genug dazu war, musste ich meiner
Mutter bei der Feldarbeit helfen. Ich hatte
einen älteren Bruder, der mit meinem Vater
nach Casablanca ziehen durfte. Dass die Menschen
in meinem Dorf so viele Kinder wollten, lag wohl
vor allem daran, dass sie möglichst viele
Arbeitskräfte für die Feldarbeit
brauchten. Kinder waren ihre
Altersversicherung.
Meine Mutter hat acht Kinder zur Welt
gebracht. Zuerst wurde Mohamed geboren, dann ein
Mädchen namens Khlija. Sie starb an
irgendeiner Krankheit. Es gab im Dorf kein
Krankenhaus, keinen Arzt und keine
Krankenschwester. So etwas gab es auch in
Tafraoute nicht, und überhaupt nirgends in
der ganzen Umgebung.
Als drittes Kind kam ich zur Welt. Es folgten
Abdallah, Lahcen, Ali und nach diesem noch zwei
Kinder, Brahim und Mustafa, die beide einer
Krankheit erlagen. Abdallah, Lahcen und Ali
leben heute in Casablanca. Mohamed ist ca. im
Jahre 1977 gestorben. Als ich ungefähr vier
Lenze zählte, schickte meine Mutter mich
auf eine Koranschule, wo ich die Sprache der
heiligen Schrift, Arabisch, lesen und schreiben
lernen sollte. In jedem Dorf gab es eine Moschee
und einen "Fqih", einen Religionslehrer, der
genug wusste, um die Grundlagen des Lesens und
Schreibens zu vermitteln. Ihm oblag auch die
Verantwortung für die Moschee; diese ist
nämlich nicht nur ein Ort des Gebets,
sondern dient auch als Schule für Kinder,
welche dort den Koran auswendiglernen sowie
lesen und schreiben lernen.
Unser Fqih, Sidi Souleiman, stammte nicht aus
dem Dorf, sondern aus einer ganz anderen Gegend,
denn einen Menschen, der so hochgebildet war,
dass er das Arabische in Wort und Schrift
einigermassen beherrschte, gab es bei uns nicht.
Er schrieb die Briefe, welche die Einwohner
unseres Dorfes absenden wollten - etwa den,
welchen meine Mutter an den in Casablanca
weilenden Vater schickte - und las ihnen auch
die Briefe vor, die sie ihrerseits
erhielten.
Er war es auch, der den Koran und die
islamische Religion vermittelte und deutete. Der
Islam kennt keinen Priesterstand. Das Wort Fqih
bezeichnet schlicht und einfach den "Gelehrten,
der als Lehrer und Imam in der Moschee wirkt.
Unter einem Imam versteht man den Leiter des
Gebets. Als solcher kann jeder beliebige Muslim
amten. Jeder, der eine Ausbildung durchlaufen
hat, ist ein Fqih.
Im Dorf lebten rund 40 Familien. Jeden Tag
ass der gelehrte Mann bei einer davon; sie
sorgten abwechselnd für sein Essen. Er
betrat ein Haus nur, wenn der Mann daheim war;
ansonsten bereitete ihm die Frau einen Teller
Essen zu, der ihm dann überreicht
wurde.
Eines schönen Tages sandte mich meine
Mutter also wie erwähnt auf zu ihm. Ich
hatte keine Ahnung, wie man sich dort benahm.
Ich ging einfach auf den Lehrer zu und sagte
ihm, ich sei ein neuer Schüler. Er blickte
mich böse an. "Hau ab", sagte er, "du
gehörst aufs Feld. Du bist nicht dafür
geschaffen, lesen und schreiben zu lernen und
den heiligen Koran zu studieren." 15 Später
erfuhr ich, dass er so wütend war, weil ich
ihm kein Geschenk mitgebracht hatte. Ich selbst
wurde zornig und traurig zugleich und heckte,
wie mir meine Mutter später erzählt
hat, einen Racheplan aus. Als wieder der Tag
gekommen war, wo meine Familie ihm sein Essen
besorgen musste, schickte meine Mutter mich mit
einem Paket zur Moschee.
Dort ging es so zu, dass man an die Tür
klopfte, worauf er die Hand ausstreckte und den
Teller in Empfang nahm, ohne einen Blick nach
aussen zu werfen, denn im allgemeinen wurde ihm
das Essen von Frauen gebracht. Auf dem Weg zur
Moschee hatte ich dass Essen auf dem Teller
weggeschüttet und durch Kot ersetzt. Der
Lehrer platzte förmlich vor Wut und
schleuderte mir den Teller nach, während
ich eilig das Weite suchte. Dies verursachte im
Dorf einen Riesenskandal. Hätte man mich
zur Koranschule zugelassen, so hätte ich
Freundschaft mit den anderen Kindern
geschlossen, doch stattdessen musste ich auf den
Feldern arbeiten.
Während meiner Kindheit habe ich so gut
wie niemals gespielt, denn ich musste in aller
Herrgottsfrühe aufstehen, um das Essen
zuzubereiten und die Tiere zu füttern.
Damals besassen wir eine Kuh und ein Schaf. So
etwas wie ein Spielzeug nannte ich nie mein
eigen. Doch, einmal hatte ich eines. Als mein
Vater eines Tages in der Nähe unseres
Hauses einen Brunnen grub, sah ich, wie er
vorging. Er benutzte dazu einen Vorschlaghammer
sowie einen Handbohrer, um Löcher
auszuheben. Dann stopfte er Schiesspulver und
eine Lunte hinein. Als ich einmal allein zu
Hause war, tat ich es meinem Vater gleich, doch
legte ich das Schiesspulver sowie die Lunte
unter einen grossen Stein. Der Knall war im
ganzen Dorf zu hören. Soweit ich mich
entsinnen kann, war dies das einzige Mal, dass
ich gespielt habe.
Das Dorf war sehr arm, aber selbstversorgend.
Die Menschen bauten alles an, was sie zum Leben
brauchten, und Hunger war unbekannt. Jedermann
arbeitete ausserordentlich hart. Das Klima jener
Zonen ist ungünstig, und schon zu jener
Zeit herrschte Wassermangel.
Doch so schwer die Leute auch für ihr
tägliches Brot schuften mussten, sie waren
frei und hatten die Würde sowie den Stolz
des unabhängigen Menschen. Bettler und
Diebe waren unbekannt, und Kriminalität gab
es so gut wie gar nicht. Alle gehörten dem
gleichen Stamme an; kein Fremdling hauste im
Dorf. Man heiratete einen Partner aus demselben
Dorf oder vielleicht aus dem Nachbardorf, doch
keinen Fremden.
Das Leben der Dorfbewohner war äusserst
stark von der Religion geprägt. Der Islam
war alles, was den Menschen zur Verfügung
stand, um die grossen Fragen des Lebens zu
beantworten. Unterliess es jemand,
regelmässig zu beten, so wusste gleich das
ganze Dorf davon. Ein solches Versäumnis
gilt dort bis zum heutigen Tage als Schande.
Die "säkularisierte" weltliche Macht
hatte seit der Ankunft der Franzosen ihren Sitz
in Tafraoute, denn dort residierte der
Hauptmann, der die Kolonialmacht vertrat. Von
meinem Dorf waren es 17 Kilometer nach
Tafraoute; dorthin führte durch das Tal ein
Pfad, aber eine Strasse gab es noch nicht. Die
Luftlinie betrug wohl nicht mehr als fünf
Kilometer. Jeden Mittwoch wurde in Tafraoute ein
Souk, also ein Markt, abgehalten. Diesen suchten
wir allerdings nur selten auf, weil es in
Tahala, das nur halb so weit weg lag, einen
Sonntagsmarkt gab.
Solche Märkte spielten auch eine
bedeutsame soziale Rolle. Man traf sich nicht
nur, um Geschäfte abzuschliessen. An diesen
Tagen trug man seine besten Kleider, da man ja
Menschen aus anderen Gegenden traf. Man
plauderte über "Politik", vermittelte
Neuigkeiten und erzählte Gerüchte
weiter. Auf einem Markt wurde mein Vater 1956
zum öShejk" (Stammes-häuptling)
gewählt. Bei uns Berbern ging die
Häuptlingswürde keinesfalls
automatisch vom Vater auf den Sohn über.
Ein neuer Shejk wurde gewählt. Mein Vater
hatte gegen die Franzosen gekämpft, und in
Casablanca hatte er Interesse für die
Politik geschöpft und sich 1953 der
Istiqlal, also der Selbständigkeits-partei,
angeschlossen. Deshalb verehrten ihn die
Menschen im Dorf. Bei der Wahl auf dem
Marktentfielen fast alle Stimmen auf ihn, und er
wurde Stammeshäuptling (öAmghar" in
der Berbersprache). Die Dorfbewohner nannten
mich nun "Ben Shejk", Sohn des Scheichs. Auf
diesem Wege wurde mein Vater nun auch zum
Vertreter der zentralen Macht des Stammes,
nachdem Marokko seine Unabhängigkeit
erlangt hatte. 17 Wie alle Berberdörfer war
auch das unsere von altersher von einer
öDjama" gelenkt worden. Unter einer
solchen versteht man eine Gruppe von zwölf
durch die Dorfbewohner gewählten
Männern, welche eine Art Rat bildeten. Sie
trafen sich so oft sie konnten und
erörterten die Lage im Dorf. Formale
Sitzungen gab es nicht; sie fanden sich einfach
zusammen und setzten sich irgendwo hin.
Grundsätzlich konnte jeder beliebige Mann
an diesen Treffen teil-nehmen, und die meisten,
die dies taten, waren altehrwürdige
Männer.
Das Alter spielte eine wichtige Rolle, denn
"die älteren sind weiser als die
jüngeren", und man schenkte ihnen
grössere Aufmerksamkeit. Da das Dorf so
abgelegen war, diskutierte man meist über
praktische Fragen, beispielsweise darüber,
ob man gemeinsam eine Brücke bauen sollte
oder wann man mit der Ernte beginnen wollte. Der
Boden, der einem Bauern gehörte, bildete
nicht unbedingt ein zusammenhängendes
Ganzes; man konnte da ein Stückchen Land
besitzen und dort ein Stückchen, und es
galt den richtigen Zeitpunkt für Aussaat
und Ernte beizeiten festzulegen.
Mein Vater hatte an dem langen Krieg gegen
die Franzosen teilgenommen, welche die
ländlichen Zonen Marokkos unter ihre
Herrschaft bringen wollten. Dieser Krieg zog
sich über 25 Jahre dahin. Erst dann
glückte es den Franzosen, die Landgebiete
zu unterjochen. Mein Vater war bei der letzten
Schlacht bei Ait Abdallah im Jahre 1934 dabei.
Damals besiegten uns die Franzosen;
anschliessend beuten sie in Tafraoute einen
Militärstützpunkt.
Die Enttäuschung unserer Kämpfer
war natürlich grenzenlos. Unser ganzer
Kampf unterstand islamischen Prinzipien. Er war
eine Art öJihad", worunter man die
islamische Pflicht zum Kampf gegen die
Ungerechtigkeit versteht. "Jihad" heisst Kampf.
Im Westen missversteht man den Begriff im
allgemeinen. Man meint, es bedeute "heiliger
Krieg", doch dieser Erklärung ist zu
einfach. Das Wort leitet sich vom Verbum
"jahada" (ösich anstrengenö) ab. Jihad
ist eine islamische Pflicht. Es ist der Kampf
gegen das Böse und das Unrecht, nicht, wie
man im Westen wähnt, ein "heiliger Krieg",
sondern ein Krieg für die Gerechtigkeit,
deren Schutz einem Moslem als religiöse
Pflicht obliegt. 18 Das Gerechtigkeitsprinzip
ist der Grundpfeiler des Islam. Es verlangt von
jedem einzelnen, dass er sich anstrengt. Man
unterscheidet zwischen dem "grossen" und dem
"kleinen" Jihad. Der grosse Jihad ist der Kampf
gegen das Böse in uns selbst. Der kleine
Jihad ist der Kampf gegen das Böse
ausserhalb von uns, das Böse in der
Gesellschaft oder der Welt.
Als die Franzosen unser Land kolonisierten,
wurde gegen sie der kleine Jihad ausgerufen.
Aber das Böse, das Unrecht triumphierte
über uns. Für alle unsere Menschen war
dies eine namenlose Enttäuschung, eine
Katastrophe ärgster Art. Doch das Volk gab
nicht auf, sondern setzte seinen
Widerstandskampf fort. Der Islam verlieht ihm
Kraft und Stärke wie später den
afghanischen Freiheitskämpfern gegen die
Sowjets oder heute noch den
Palästinensern.
Der Widerstand gegen die Kolonisierung war
für uns eine Herzenssache. Der
Kolonialismus, dem wir gegenüberstanden,
war nur ein Teil des kolonialistischen Systems,
das so gut wie die ganze islamische Welt
heimsuchte und noch heute in verschiedenen
Formen weiterlebt: indirekt beispielsweise in
Marokko, direkt in Palästina und im
Libanon.
Im Jahre 1936 leitete ein Fqih, also ein
religiöser Führer, im Atlas- gebirge
mit 1000 Mann einen Angriff gegen eine
französische Garnison. Gott wird uns
beistehen, sagte er, wir brauchen keine Waffen.
Die Franzosen schossen die Angreifer
natürlich über den Haufen oder nahmen
sie gefangen. Da begriff das Volk, dass man den
Eroberern und Kolonialisten nicht mit blossen
Händen entgegentreten kann.
Man besass damals lediglich alte Waffen:
Messer, Schwerter, eine Handvoll uralter
Flinten. Der Gegner verfügte über ein
hochmodernes Waffenarsenal. Die westliche
Technologie hatte über unsere
Rückständigkeit gesiegt, nicht
über unseren Glauben oder unsere Ideale.
Die ganze Überlegenheit Israels und der
westlichen Welt fusst auf dieser technologischen
Überlegenheit über die islamische Welt
sowie die dritte Welt ganz allgemein.
Vor der Franzosenzeit übten die 12
Männer, aus denen sich die Djama
zusammensetzte, die gesamte Rechtssprechung im
Dorf aus. Im Islam gab es für jede
Situation Präzedenzfälle und Regeln.
Wenn die Männer einen Entschluss gefasst
hatten, ging ihr Bescheid von Mund zu Mund
durchs Dorf. Nichts wurde niedergeschrieben. Man
konnte da von einer Art direkten Demokratie
freier Männer sprechen, welche
kennzeichnend für die Berbergesellschaften
war.
Solange die Dörfer isoliert waren und
keine Zentralmacht existierte, ging das gut.
Nachdem die Franzosen Fuss gefasst hatten,
durfte sich der Dorfrat, die Djama, nur
noch mit rein praktischen Alltagsfragen
befassen, während die tatsächliche
Macht bei den Franzosen lag, die dann auch alle
wichtigen juristischen Fragen selbst
entschieden. Dies rief Unwillen bei den Berbern
hervor, welche diese Einmischung als Widerspruch
zu den islamischen Gesetzen auffassten. Nun
entschieden die Kolonialisten über zivil-
und familienrechtliche Probleme, die für
die Dorfbewohner von allergrösster
Wichtigkeit waren und deren Hintergrund die
Franzosen nicht kannten.
Die Menschen im Dorf wandten sich auch
dagegen, dass die Franzosen Berber und Araber
gegeneinander auszuspielen suchten. In Marokko
besteht wohl ein Gegensatz zwischen Land- und
Stadtbevölkerung, doch keinesfalls zwischen
Berbern und Arabern. Für den Durch-
schnittsmarokkaner sind "Araber" und "Moslem"
Synonyme. Dass man Araber sein kann, ohne
zugleich Moslem zu sein, ist für ihn
unverständlich. Man darf den Koran nicht
übersetzen, und man darf seine Gebete nicht
in der Berbersprache verrichten. Das Arabische
ist die Sprache des Koran und folglich heilig.
Wenn meine Mutter auf dem Boden ein Papier mit
arabischer Schrift sieht, regt sie sich
furchtbar auf, weil eine heilige Sprache nicht
in den Schmutz gezogen werden darf. Für sie
ist also "Araber" genau dasselbe wie
"Moslem".
So etwas wie instututionalisierte Korruption
gab es in unserer Gegend vor der Kolonialzeit
nicht. Natürlich bestanden
Ungerechtigkeiten, aber solche beseitigten wir
selbst, und wer einem anderen ein Unrecht
zufügte, konnte schlimmstenfalls dafür
getötet werden. Hier lag das Prinzip der
Blutrache begründet: Hast du einen Menschen
umgebracht, so musst du im allgemeinen mit
deinem eigenen Leben dafür bezahlen.
Die Besatzerbehörden arbeitete mit
Verrätern zusammen, die schalten und walten
konnten, wie es ihnen beliebte, ohne dass sie
dafür zur Rechenschaft gezogen wurden.
Ungerechtigkeit und Korruption wurden von neuen
Gesetzen, vom Staat und der Polizei gedeckt. Vor
der Kolonisierung herrschte Ordnung, die dann
durch eine Art organisierte Anarchie
abgelöst wurde. Gewisse Leute konnten
morden, sich der Korruption hingeben, ihre Macht
schamlos missbrauchen und sich aufführen,
wie sie wollten, ohne dafür eine Bestrafung
zu riskieren. Sie hatten das "Gesetz" und die
Staatsmacht auf ihrer Seite.
Früher waren wir alle ungefähr
gleich arm, doch nun konnten einige durch
Korruption oder durch Handel in den Städten
zu Reichtum gelangen, weshalb die soziale Kluft
zwischen arm und reich wuchs. Als Beispiel kann
man einen Neureichen namens Bouhdar
anführen, der zu Beginn der fünfziger
Jahre in Tahala lebte. Er häufte durch
Spekulation Unsummen von Geld an, hatte seine
Finger in allen möglichen
Bestechungsaffären und schenkte dem
französischen Militär- kommandanten
ein schickes Auto. Als Gegenleistung bekam er
die Erlaubnis, unter dem Schutz der
französischen Militärmacht zu tun,
wonach ihm der Sinn stand. Er war also zum
Kollaborateur geworden.
Zum Zeitpunkt, wo ich dieses Buch schreibe,
ist dieser Mann noch am Leben. Er treibt es
immer noch wie früher, nur verrichtet er
seine Dienste nun für die
neokolonialistischen Behörden des "neuen",
formal selbständigen Marokko. Ehe die
Franzosen abzogen, traten sie die Macht an die
Verräterclique ab, die das Land heutzutage
regiert. Solchen Verrätern wie dem
erwähnten Boudhar galt unser Hass. Nachdem
die Franzosen den Krieg gewonnen hatten, bekamen
wir ihre Beamten nicht allzu oft zu Gesicht.
In unserer Gegend lebte nur ein einziger
französischer Offizier, der
Militärkommandant der Besatzerarmee in
Tafraoute, der zugleich Gouverneur und
Führer eines marokkanischen
Söldnerbataillons war. Doch nach dem
verlorenen fünfundzwangzigjährigen
Krieg war das Volk müde geworden.
Pessimismus, Verzagtheit und Verzweiflung nahmen
überhand, und die Verräter machten
sich diese Stimmung zunutze. Der von den
Kolonialisten protegierte Sultan wurde vom Volk
als Verräter betrachtet. 21 Die Franzosen
wussten natürlich sehr wohl, dass unsere
Bergzonen isoliert und selbständig gewesen
waren und mit dem korrupten Rest des Landes
nicht allzu viel zu tun hatten. Diese Situation
wollten sie nun für ihre eigenen Interessen
ausnutzen, indem sie die Berber an der
französischen kulturellen Invasion
teilhaben liessen. Die Franzosen entschieden,
"richtige" französische Schulen zu
errichten und riefen für alle Kinder die
allgemeine Schulpflicht aus.
Dahinter stand die Absicht, den Berberkindern
Französisch beizubringen. Auf diese Art
sollte ein Riss zwischen französisch-
sprechenden Berbern auf dem Land und
arabischsprechenden Arabern in der Stadt
entstehen, aber auch eine Kluft zwischen den
Berbern und ihren mit der französischen
Sprache aufwachsenden Kindern. Während
meiner Jugendzeit gab es bei uns im Dorf ausser
dem Fqih niemanden, der Arabisch konnte.
Als die Franzosen irgendwann anno 1951 oder
1952 in Tafraoute eine Schule bauten, erregte
dies heillosen Schrecken. In Windeseile
verbreitete sich das Gerücht, die Franzosen
wollten die Kinder stehlen. Damit gemeint war
natürlich, dass sie sie ihren Eltern
kulturell entfremden wollten, doch manche
erzählten, sie wollten die Kinder den
Eltern buchstäblich wegnehmen.
Eines Nachts machte sich meine Mutter deshalb
heimlich mit mir auf den Weg. Ich erinnere mich
noch daran, dass sie mich auf ihre Schultern
setzte und dass ihr Nackenhaar mich an der
Innenseite meiner Schenkel kitzelte (die Frauen
pflegten sich den Nacken zu rasieren).
Im Schutze der Dunkelheit brachte meine
Mutter mich in ein Dorf, das acht Kilometer von
unserem Heimatort entfernt war. Von dort fuhr
ein Bus nach Casablanca. Sie schickte mich mit
einem Freund meines Vaters auf den Weg, denn am
nächsten Tag sollte der Unterricht in der
französischen Schule anfangen.
Ich war keinesfalls das einzige Kind, das auf
diese Weise aus dem Dorf geschmuggelt wurde. In
vielen Nachbardörfern geschah hnliches, da
die Leute dort ihre Kinder auch nicht auf die
Franzosenschule schicken wollten. 22 So
verschlug es mich das erste Mal nach Casablanca.
Statt die Schule zu besuchen, musste ich als
kleines Kind bei meinem Vater in einem
Geschäft arbeiten. Das war im Jahre 1952.
Ich zählte damals fünf oder sechs
Jahre.
Als die ersten französischen Soldaten
nach Marokko entsandt wurden, um dort ein
"Protektorat" zu gründen, stiegen sie beim
Fischerdörfchen Anfa an der marokkanischen
Atlantikküste an Land. Sechzig Jahre
später war das Fischerdörfchen zur
viertgrössten Stadt des afrikanischen
Kontinents geworden. 1968 wohnte jeder zehnte
Marokkaner in Casablanca, einer rasch wachsenden
Metropole, welche, wie so viele andere
Grossstädte der Dritten Welt, die
Landbevölkerung förmlich einsaugt.
Casablanca ist also eine junge Stadt und
gleicht keiner anderen in Marokko, sondern weist
einen ganz eigenen Charakter auf. Das Zentrum,
wo die grossen Hotels und Geschäfte liegen,
könnte irgendeiner anderen Stadt im
Mittelmeerraum gehören; es gibt dort wenig,
was echt marokkanisch ist. Das Stadtbild wird
von zehn- bis fünfzehnstöckigen
Häuern geprägt, die zur Zeit des
wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten
Weltkrieg erbaut wurden.
Heutzutage flankieren die Häuser die
breite Strasse der Königlichen
Streitkräfte, die bis zum Platz Mohammeds
des Fünften reichen (früher hiess er
Place de France). Auf der anderen Seite des
grossen Markts erstreckt sich das alte Medina
(was auf arabisch "Stadt" heisst). Als die
Franzosen kamen, lebten dort ca. 20'000
Menschen. Heute, 70 Jahre später,
drängen sich rund 3 Millionen Einwohner auf
ungefähr der gleichen Fläche
zusammen.
Anfänglich expandierte die Stadt von der
Place de France aus in alle Richtungen. Die
Europäer wohnten im Zentrum. Ein Disktrikt,
Marif, war zur Kolonialzeit
hauptsächlich von Spaniern bewohnt. Um 1930
erhielten die Marokkaner die Erlaubnis, in ein
neu erbautes öeuropäisches" Gebiet zu
ziehen, Neumedina, dessen Einwohnerzahl bis 1960
auf l85'000 zunahm.
Die meisten Bewohner dieser neuen Stadtteile
rekrutierten sich aus der marokkanischen
Mittelklasse, die fast jeden Marokkaner umfasst,
welcher für seine Arbeit Lohn bezieht:
Arbeiter, Staatsbeamte, Büroangestellte,
Lehrer und Ladenbesitzer. In diesen Quartieren
schossen die nationalistischen Bewegungen der
Städte aus dem Boden und warben ihre ersten
Anhänger.
Vielleicht meinten die Franzosen, als sie
Neumedina aus dem Boden stampften, sie
könnten die Eingeborenen so von den im
Zentrum lebenden Europäern isolieren, doch
dieses Kalkül schlug fehl. Als diese
Stadtteile zur Hochburg der Stadtguerrilla
wurden, bereitete es den französischen
Behörden allergrösste Mühe, in
die Stützpunkte der Widerstandskämpfer
einzudringen.
Immer mehr Kopfzerbrechen verursachte den
Franzosen auch das rasche, illegale und
unkontrollierbare Wachstum der Slums an den
Stadträndern. Solche Elendsquartiere
begannen während der zwanziger Jahre aus
dem Boden zu schiessen, und während der
dreissiger Jahre wucherten sie krebsartig aus.
Auf französisch nannte man sie
öbidonvilles", was von "bidon",
"Blechbüchse", kommt. Das wichtigste
Baumaterial waren nämlich Konservendosen,
die man plattdrückte und dann zur
Herstellung von Wänden und Dächern
benutzte. Die beiden grössten Slums von
Casablanca sind die CarriÜres Centrales
(1959 59'000 Einwohner) und Ben M'sik (1959
97'000 Einwohner).
Andere Elendsviertel schossen überall
dort wie Pilze aus dem Boden, wo ein
Grundbesitzer bereit war, Land zu vermieten,
oder wo die neuen Stadtbewohner unbebautes
Terrain vorfanden. Die kommunalen Behörden
haben diese Stadtteile niemals juristisch
anerkannt, und kein Besitzer einer
Blechhütte wagt deshalb, diese in eine
ordentliche, permanente Wohnung umzugestalten -
aus Angst davor, dass die Behörden eines
Tages Bulldozer auffahren und das ganze
Slumviertel niederwalzen lassen könnten.
Ungefähr 30% aller Einwohner von Casablanca
hausen in solchen "bidonvilles". Diese Ghettos
werden eines Tages vielleicht die ganze Stadt
verschlingen. Hier existiert eine Subkultur, in
welcher die Menschen schon seit Jahrzehnten in
weitgehender Isolation von der Stadt und deren
Bewohnern leben.
Die Einwohner dieser Slums sind den
Behörden gegenüber feindlich gesinnt,
aber wohl doch nicht bereit, sich zu
verteidigen, weil sie so unerhört
verwundbar sind und so viel zu verlieren haben.
Die Stadt ist ihrer Meinung nach immer noch
besser als das Dorf, egal ob es nun Arbeit gibt
oder nicht. Sie wollen um keinen Preis in ihre
verarmten Heimatorte zurückkehren.
So gut wie jede Sphäre ihres Lebens
untersteht der Kontrolle der Behörden: die
Wohnerlaubnis im Ghetto, die Arbeitsgenehmigung,
die Identitätskarte, die Erlaubnis, ihre
Kinder zur Schule zu schicken, usw. Sie
müssen ungemein vorsichtig sein, um das
wenige, was die Stadt ihnen bietet, nicht aufs
Spiel zu setzen.
Der Überlebenskampf ist in diesen
Elendsquartieren dermassen mörderisch, dass
es für "politischen Extremismus" keine
Basis gibt. Die brotlosen Menschen wagen nur
selten, Sympathie für radikale
Lösungen zu äussern, besonders wenn es
sich bei diesen um importierte,
fremdländische Ideen handelt. Sie
können es sich nicht leisten,
Revolutionäre zu sein. Andererseits kann es
in diesen öbidonvilles" zu Explosionen von
Hass und Terror kommen, wenn die Brotlosen eines
Tages gar nichts mehr zu verlieren haben. So war
es 1965 in Casablanca.
"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", sagt
ein Protagonist in einem der (auf
französisch geschriebenen) Romane des
marokkanischen Schriftstellers Driss Chraibis.
Er konnte sich diese Formulierung leisten. Es
war ja nur eine bildhafte Wendung, doch er
konnte sie sich erlauben. Die Sozialisten
konnten sich den Luxus gönnen, mehr als
Brot zu benötigen. Hier, in den
Elendsvierteln, gab es kein Brot. Nicht einmal
einige Krumen.
Hier gab es nichts anderes als entwurzelte,
unterdrückte Menschen, die mit etwas
Glück überlebten, aber das war schon
alles. Und die Kinder, diese Scharen von
Kindern, die schon vor Sonnenaufgang auf den
Beinen waren, nackt, mit vom Hunger aufgedunsten
Bäuchen und riesengrossen Augen, die im
Unrat nach etwas Essbarem wühlten. Fanden
sie einige Brotkrumen, so war dies eine Gabe
Gottes. Anstelle solcher fanden sie politische
Flugblätter.
25 Sie brachten Trachome und Staphylokokken
mit nach Hause und legten jene Gottergebenheit
an den Tag, welche die Ideologie der Erwachsenen
ihnen eingeimpft hatte. In diesen Quartieren
haben die Kinder, und jene, die auf die Heimkehr
der Kinder warten, nur ein einziges Ziel: eines
Tages sagen zu können, sie hätten
genug Brot zum Leben gehabt.
Wenn man kein Brot fand, so fand man
vielleicht Abfall, für den die Gesellschaft
keine Verwendung gehabt hatte: rostige
Konservendosen und alte, verrottete
Papierschachteln. Aus den Papierschachteln
wurden Wände und aus flachgedrückten
Dosen Dächer. Aber alle diese lebenden
Toten warteten auf eine revolutionäre
Ideologie, welche sie in Krieger verwandeln
würde. Sie sassen vor ihren elenden
Schuppen, sahen die Sonne im Osten auf- und im
Westen niedergehen und hörten das
Geplärr aus dem Radio, das sie mit
Mystizismus und Statistik, Produktionsnormen,
Hymnen und allerlei Reklame für Waren
überschütteten, die für sie so
unerreichbar waren wie die Sonne.
Der Widerstand gegen den Kolonialismus wurde
auf dem Land an allen Fronten geführt:
politisch, kulturell und auch mit der Waffe. Die
Nationalisten in den Städten verbreiteten
ihre Ideen, gründeten Parteien, Zeitungen,
Gewerkschaften und betrieben ideologische
Propaganda. Der Widerstand wies hier "moderne",
bürgerliche Formen auf und war von
westlicher Denkweise beeinflusst. 1934 legten
die Souassa im Atlasgebirge ihre Waffen nieder,
um den Widerstand in anderer Form
weiterzuführen, und viele beteiligten sich
am ersten grossen Industriestreik von 1936.
Hauptaktionsbasis für die Souassa war nun
Casablanca, eine Stadt, die fast
vollständig von Migranten aufgebaut war,
unter denen die Berber vom Hohen Atlas und
Antiatlas zahlreich vertreten waren. Und da
Casablanca das kommerzielle und industrielle
Zentrum des Landes war, galt die dortige
politische Entwicklung als richtungsweisend
für die Marokkos in seiner Gesamtheit.
Meine Mutter setzte mich also in den Bus nach
Casablanca, wo mein Vater arbeitete. Nach
einiger Zeit kehrte mein Vater nach Tafraoute
heim, doch ich blieb zurück und arbeitete
in verschiedenen Lebens- mittelläden
für allerlei Leute, die mein Vater nicht
kannte.
Ich war fünf oder sechs Jahre alt, und
sie behandelten mich wie einen Sklaven. Um vier
Uhr morgens wurde ich aus dem Schlaf gerissen.
Ich musste den Laden aufräumen und
verteilte dann Zeitungen oder Milch an Leute,
die in den vornehmsten Stadtteilen wohnten. Ich
musste Dinge aufheben, die schwerer waren als
ich. Eine Zeitlang war ich in einem Laden
angestellt, der Chemikalien zur
Textilienfärbung verkaufte. Vom Einatmen
der Chemikalien wurde ich an der Luftröhre
und der Lunge krank. Da wurde ich entlassen. Ich
verdiente so gut wie nichts und arbeitete einzig
und allein fürs Essen.
Als Kind wurde ich grausam behandelt. Vor
allem Berberkaufleute, bisweilen sogar meine
eigenen Stammesgenossen, nutzten mich aufs
schlimmste aus, und ich musste Tag und Nacht wie
ein Sklave schuften. Ich arbeitete im Laden und
wohnte zugleich dort. Mein Schlafplatz lag unter
dem Ladentisch. 1956 kam dann die
"Selbständigkeit". Meine Eltern hielten
sich in Tafraoute auf, während ich in
Casablanca wohnte, bei meinem Bruder Mohamed,
der schon ein Teenager war und ein kleines
Geschäft eröffnet hatte. Doch nach ein
paar Monaten fuhr er gleichfalls nach Tafraoute
zurück, und ich musste bei anderen Menschen
arbeiten.
Meine letzte Arbeit als Kind war bei einer
jüdischen Familie, die in Casablanca einen
Lebensmittelladen besass und sich auf die
Ausreise nach Israel oder Kanada vorbereitete.
Sie schickten eine Tochter nach Israel und einen
Sohn nach Kanada, um die Lage zu sondieren. Bei
ihnen entdeckte ich, wie hasserfüllt und
rassistisch Juden gegenüber Moslems und
Christen sind. Ich durfte nicht am selben Tisch
wie sie essen. Sie betrachteten Nichtjuden nicht
als Menschen.
Zu jener Zeit setzte ich mir in den Kopf, ich
müsse zur Schule gehen und etwas lernen,
und ich bat einen Vetter, mich ins Dorf
heimzuführen. Mein Vater wurde sehr
wütend. Er wollte unbedingt, dass ich als
"Geschäftsmann" Karriere machte wie alle
anderen aus unserer Gegend. Der Weg zu einer
solchen Karriere lag darin, dass ich bereits als
Kind in einem Geschäft arbeitete. "Du bist
mir ein komischer Vogel", schimpfte er. Doch ich
wollte um jeden Preis zur Schule, obgleich er
beschloss, dass ich im Dorf oder in der Stadt
arbeiten müsse und meinen Fuss nie in ein
Klassenzimmer setzen dürfe.
Ohne meinen Vater um Erlaubnis zu bitten,
ging ich dann rund 15 Kilometer zu Fuss nach
Tafraoute und suchte den Gouverneur auf, den
Kaiden, welcher der Verwaltungschef des Bezirks
Tafraoute war. Sein Name war Hadj Ahmed
Ougdourt. Er galt in ganz Marokko als Unikum.
Hadj Ahmed Ougdourt hatte über 80'000
Menschen unter sich; mein Vater war als Schejk
gleichfalls sein Untergebener. Zu diesem Mann
ging ich also und sagte ihm, ich wolle zur
Schule gehen, doch mein Vater sei dagegen.
Hadj Ahmed Ougdourt war beinahe Analphabet.
Doch über sein Leben kursierten die
wildesten Gerüchte, und sie waren
märchenhaft. Während der Kolonialzeit
hatte er sich so unbotmässig gezeigt, dass
man ihn in Tafraoute hinter Schloss und Riegel
setzte. Er kam eigentlich vom Stamm der Issy,
der drei Meilen von Tafraoute entfernt lebte,
und hatte früher ein kleines Geschäft
in Rabat besessen. Im Gefängnis verhielt er
sich stolz und hochmütig gegenüber dem
französischen Hauptmann, dem "Qbtann", wie
die Menschen diesen nannten (er war der
Militärgouverneur in Tafraoute). Man
erzählte, Hadj Ahmed Ougdourt habe als
Gefangener zum Hauptmann gesagt: öWenn mein
Land frei ist, werde ich hier an deiner Stelle
der Chef!"
Damals wagte noch kaum einer zu hoffen, dass
Marokko irgendwann einmal selbständig sein
würde. Das Volk war so entmutigt und die
Franzosen militärisch dermassen stark, dass
nur wenige im innersten Herzen an einen Sieg
über die Unterdrücker glaubte, aber
Hadj Ahmed Ougdourt gehörte zu diesen
wenigen. Seine einzige Ideologie und Stärke
war der Glaube an den Koran. Wer keine
höhere Macht anerkennt, lebt oft nach dem
Gesetz des Dschungels. Doch für einen
frommen Muselmanen muss Stärke auf
Gerechtigkeit gründen und die Gerechtigkeit
stark sein, damit man eine menschlichere Welt
schaffen kann.
Als die Selbständigkeit dann
tatsächlich gekommen war, liess man diesen
Mann frei, und der neue marokkanische Gouverneur
ernannte ihn zum Kaiden von Tafraoute. Er war
kein Konformist, seinem Wesen nach ein Original,
ein Widersacher jeder Ungerechtigkeit und ein
scharfer Gegner aller Korruption.
Er mobilisierte flugs die Bevölkerung,
um in jedem Dorf eine Schule zu errichten und
Strassen zwischen den Dörfern zu bauen, und
er liess Tausende von Olivenbäumen
anpflanzen. Sogar das erste kooperative
Unternehmen der Gegend ging auf seine Initiative
zurück. Er achtete darauf, dass all dies
ohne Befehle von oben zustande kam. Alle diese
segensreichen Dinge entstanden dank seiner
Initiative.
Die "Selbständigkeit" erwies sich als
Betrug der Franzosen an den Marokkanern. Sie
übergaben die Macht dem Sultan, zogen aber
hinter die Kulissen weiterhin die Fäden und
stellten ihm in Frankreich ausgebildete
Offiziere zur Verfügung, die auch in der
französischen Armee gedient hatten -
Männer wie Oufkir und Dlimi beispielsweise
mitsamt einer ganzen Armee, welche direkt aus
der französischen hervorgegangen war. Die
Polizei rekrutierte sich hauptsächlich aus
Verrätern und Kollaborateuren, welche
für die französischen Kolonialisten
Handlangerdienste verrichtet hatten und sich nun
auf wichtigen Posten einnisteten.
Die vielleicht einzige Ausnahme in ganz
Marokko war der Kaid von Tafraoute, ein
erklärter Widersacher der
Kolonialherrschaft. Von ihm hiess es, er tanze
zu einer anderen Musik als zu der des Sultans.
Er zeigte uns, wie es zugegangen wäre,
hätten wir eine echte Selbständigkeit
erworben. Er hatte die Gabe, das Volk spontan zu
mobilisieren und konnte die Leute dazu
überreden, sich freiwillig zum Bau von
Schulen oder Strassen zu melden, ohne dass es
dazu einer Verwaltung oder eines Budgets bedurft
hätte. War man mit dem Bauen fertig,
schickte er einen Brief ans
Erziehungsministerium in Rabat und teilte diesem
mit, in der und der Ortschaft gebe es nun eine
Schule und sogar Lehrer.
Der Kaid erweckte mit seinem
eigenmächtigen Vorgehen Anstoss und Unruhe,
und zwar sowohl bei den provinziellen
Behörden in Agadir als auch bei den
zentralen in Rabat. Er beging den Fehler, das
Wort öSelbständigkeit" wörtlich
zu nehmen. Er errichtete auch ein grosses Heim
für elternlose und arme Kinder und liess
sogar eine Schule für jene Kinder
einrichten, die nicht auf die staatlichen
Schulen gehen konnten. Dort meldeten sich 300
Schüler.
Ich war eines der Kinder, welche dank jenem
Heim und dank der von Hadj Ahmed gebauten Schule
zum Unterricht gehen konnten. Als Kind sah ich
in ihm ein Vorbild und einen Helden. Er besass
ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl und Sinn
für Demokratie und Menschenrechte, nicht
nur in seinen Worten, sondern auch in seinen
Taten.
In Tafraoute gründete Hajd Ahmed
ausserdem eine Kooperative, eine Fabrik, wo
Dutzende von Frauen Arbeit fanden und wo man
Teppiche herstellte. So etwas hatte es in
unserer Gegend noch nicht gegeben. Auch eine
Bibliothek war dort früher unbekannt, doch
er sorgte dafür, dass wir eine bekamen. Er
liess sogar die ersten "ffentlichen Toiletten im
Zentrum von Tafraoute bauen, auf dem Marktplatz
Souk Larba. Die Leute dort hatten nie im
Leben so etwas wie moderne Toiletten zu Gesicht
bekommen. Sie verrichteten ihre Bedürfnisse
irgendwo im Freien, aber nun strömten sie
auf die funkelnagelneuen Toiletten.
Es war Mittwoch und Markttag. Bei der
Einweihung der Bedürfnis- anstalt hielt der
Kaid eine Rede. Nach kurzer Zeit merkte man,
dass die Leute ihre Bedürfnisse
überall auf dem Boden verrichteten, nur
nicht über den Löchern, die eigens zu
diesem Zwecke angebracht waren. Deswegen liess
der Kaid die Menge am nächsten Markttag
abermals versammeln und hielt wiederum eine
Ansprache. Als tiefreligiöser Mensch begann
er seine Ausführungen wie üblich mit
einer Lobpreisung Gottes. Dann fuhr er fort:
"Warum setzt ihr eure Löcher nicht auf die
Löcher der Toiletten?" Wütend fuhr er
fort: "Möge Gott euch den rechten Weg
weisen!" und ging seines Weges.
Als Verantwortlichen der neuen Bibliothek im
Zentrum von Tafraoute ernannte der Kaid einen
Fqih, der in den fünfzigern stand. Dieser
hatte nie im Leben ein anderes Buch gelesen als
den Koran. Sein Name lautete Sidi Mahfoud. Als
er in der Bibliothek andere, neue Bücher zu
lesen bekam, wurde sein zuvor fester Glaube
dadurch arg erschüttert. Er war
unfähig, auf die vielen heiklen Fragen zu
antworten, welche die Leser ihm in der
Bibliothek stellten. Die dort ausliegenden
Zeitungen kündeten von den zum Mond
gesandten russischen Satelliten und von Gagarins
Raumfahrt. Das Ganze begann Sidi Mahfous'
intellektuelles Vermögen zu
überschreiten. Nach ein paar Monaten erlitt
er einen seelischen Kollaps. 30 An einem
Markttag versammelte er mehrere hundert Personen
ausserhalb der Bibliothek, um eine "wichtige"
Rede zu halten. Er eröffnete seinen
staunenden Zuhörern, dass er in der Nacht
zuvor "mit Gottes Hilfe" ins All und zum Mond
geflogen sei und dort unter anderem den
Dämonen (öDjinnö) Jamharosh
getroffen hatte.
Kaid Hadj Ahmed hatte für Scharlatane
nichts übrig, selbst wenn sie einen
seelischen Kollaps erlitten hatten. Er liess
Sidi Mahfoud verhaften und für zwei Tage
hinter Schloss und Riegel setzen, mit der
Aufforderung, er solle doch Jamharosh aus dem
Weltall herbeirufen, um seinen Astronauten zu
befreien. Dann wurde der wackere Raumfahrer zur
Pflege in eine psychiatrische Klinik in Agadir
geschickt. Die Bibliothek wurde für zwei
Monate geschlossen. Nach ihrer
Wiedereröffnung - sie hatte nun einen neuen
Leiter - getrauten sich viele nicht mehr
dorthin, weil sie Angst vor dem Dämon
hatten, der Sidi Mahfoud heimgesucht hatte.
Hajd Ahmed war ein durch und durch
origineller Mensch, und was er für die
Menschen der Gegend an Gutem tat, lässt
sich gar nicht ermessen. Er brachte eine
regelrechte Kulturrevolution zustande. Die
ehemaligen Kollaborateure der Kolonialmacht
schmähte er verächtlich als
"Volksverräter" und "neue Kolonialisten".
Sie bekamen bei ihm keine Privilegien wie
anderswo, sondern mussten wie alle anderen
Schlange stehen, wenn sie um eine Audienz bei
ihm ersuchten. Eine solche Behandlung goutierten
die Herren gar nicht, denn so etwas gab es sonst
nirgendwo im Lande. Die Reichen waren daran
gewöhnt, alles kaufen zu können, auch
Beamte.
Überall anderswo in Marokko verkam die
"Unabhängigkeit" zur Farce, zu einer Art
Missgeburt. König Mohamed V war ein
trojanisches Pferd der Franzosen. An die Stelle
der französischen Herren traten
Verräter und Neokolonialisten. Es wirkte
so, als hätten sich die Franzosen bloss
ihrer europäischen Kleider entledigt und
stattdessen die "Djebella", die marokkanische
Nationaltracht, angezogen. Die Polizei setzte
sich beispielsweise immer noch aus den gleichen
Beamten zusammen, die den Franzosen seinerzeit
willfährig gedient hatten.
Alle Widerstandsorganisationen, die sich im
Kampf gegen die Franzosen gebildet hatten,
wurden nach und nach aufgelöst, und viele
ihrer Mitglieder wanderten hinter Gitter. Mit
Fug und Recht sagt der Koran: "Wenn Könige
in einem Lande die Macht ergreifen, verderben
und zerstören sie es und verwandeln seine
freien Menschen in Sklaven. Dies tun sie
fürwahr." Die heutige marokkanische
Monarchie ist vom Kolonialismus geschaffen
worden, nicht vom marokkanischen Volk. Der Islam
verbietet nämlich die Monarchie als
Staatsform.
Der Kaid von Tafraoute, Hadj Ahmed, konnte
vier Jahre lang, von 1956 bis 1960, wirken, ehe
der Gouverneur von Agadir ihn auf Geheiss des
Königs absetzte. Ein Jahr später wurde
er von Agenten des Monarchen ermordet, weil er
sich nicht in das korrupte System einfügen
liess. Der Kaid war ein Mitglied des Orchesters,
doch störte er die Symphonie dadurch, dass
er seinen eigenen Takt bestimmte. Darum wurde er
seines Amtes enthoben und durch den Hampelmann
Abdelaziz ersetzt, der zur Kolonialzeit
Sekretär des französischen
Militärgouverneurs gewesen war. Er war also
ein typischer Verräter und eine Kreatur des
alten und neuen Kolonialismus.
Dass mein Vater zum Shejk des Tahala-Stammes
gewählt wurde, hatte er dem Kaiden Hadj
Ahmed zu danken, der an die islamische
Demokratie (öShoraö) glaubte. Anderswo
im Land wurden die Shejks nicht gewählt,
sondern durch die Provinzgouverneure eingesetzt.
An einem Sonntag im Januar 1956, es war
Markttag, versammelte der Kaid die
Angehörigen des Tahala-Stammes zu einem
Treffen auf dem Markt Souk Lhad, damit sie ihren
Shejk küren sollten. Unter vielen
Kandidaten wurde mein Vater gewählt. Als
dieser mich anfang 1958 nicht zur Schule gehen
lassen wollte, begab ich mich, wie früher
berichtet, also zum Kaiden.
Ich war nur ein kleines Kind, aber er empfing
mich. Einer der Knöpfe in meinem Hemd war
anders als die übrigen. Der Kaid war ein
Pedant und Perfektionist. Er kritisierte alles,
was ihm nicht in den Kram passte und was er
ändern wollte. "Wer hat bloss diesen Knopf
angenäht?" fragte er mich. "Ich selbst,
denn ich habe keinen passenden Knopf gefunden",
antwortete ich.
"Dann musst du einen suchen. Man muss alles
ordentlich machen, denn das hat der Prophet
befohlen. Alles, was wert ist, dass man es tue,
muss gut und sorgfältig getan werden." Er
gab mir ein Büchlein mit einer Auswahl von
Aussprüchen des Propheten
(öHadithö) und fuhr fort: öMan
soll nicht nur lesen und denken, sondern auch so
handeln wie der Prophet Mohamed." Der Kaid
sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen.
"Selbstverständlich gehst du mir zur
Schule", sagte er. "Du kannst kostenlos im
Waisenhaus wohnen." Er meldete mich für die
Schule an. Mein Vater ärgerte sich nicht
wenig darüber, konnte aber nichts tun, weil
der Beschluss ja von seinem Vorgesetzten
ausgegangen war.
Ich war vielleicht elf oder zwölf Jahre
alt und damit mehrere Jahre älter als die
anderen Schüler. Einen richtigen
Schulranzen hatte ich auch nicht, sondern bloss
einen geflochteten Sack, wie ihn die Frauen zum
Einkaufen auf dem Markt verwendeten. Ich
büffelte Tag und Nacht. Ich kaufte mir
Stearinkerzen, damit ich nach dem
Lichterlöschen, welches abends um zehn Uhr
stattfand, noch weiter lernen konnte. Mit Hilfe
zweier Kartons und meiner Decke baute ich mir
eine Art Zelt ums Bett, wo ich meine Studien
betreiben konnte.
Um vier Uhr früh mussten wir aus den
Federn. Ein ehemaliger marokkanischer
Unteroffizier der französischen Armee war
im Internat für die Disziplin
zuständig und regelte unseren Tagesablauf
mit mililtärischer Präzision. Nach dem
Aufstehen mussten wir uns vor dem
Frühstück in eiskaltem Wasser waschen,
und dann stand das Morgengebet auf dem Programm.
Einige Schüler mochten sich im Winter nicht
waschen, weil es so kalt war, und taten nur so,
als wüschen sie sich. Einmal kam der Kaid
morgens um halb fünf völlig
überraschend in die Moschee und entdeckte,
dass einige der Kinder ihre Schuhe anhatten, was
man in einer Moschee nicht darf. Er war sehr
zornig auf uns. Doch war er ein grossartiger
Mensch, der mir unendlich viel bedeutete.
Nach nur einigen Wochen in der ersten Klasse
durfte ich dank meinem unermüdlichen
Fleiss, meinen Vorkenntnissen und meinem Alter
gleich in die dritte Klasse aufrücken.
Schon drei Monate später sass ich in der
vierten und letzten Klasse. 33 Zu jener Zeit, es
war Ende 1958, hiess der Erziehungsminister
Mohamed el-Fassi. Er war Mitglied der
Istqlalpartei und ein recht ordentlicher Mann.
El-Fassi befürwortete eine rasche
Arabisierung des Unterrichts und hatte
beschlossen, die Kinder sollten den Unterricht
in marokkanischer Geschichte und Geographie auf
arabisch erhalten und nicht mehr auf
französisch wie früher.
Der Haken war nur, dass es keine in
arabischer Sprache ausgebildeten Lehrer für
diese Fächer gab. Die Religionslehrer in
den Moscheen hatten ja niemals Geschichte oder
Geographie gelernt oder eine pädagogische
Ausbildung in diesen Fächern erhalten. Wie
konnten sie da anständigen Unterricht
erteilen? Von Geschichte und Geographie hatten
sie keine blasse Ahnung. Ihr Unterrichtsstil
bestand darin, dass sie die Schüler bis zur
Ermüdung wiederholen liessen, was sie vorne
am Pult sagten.
Mein erster Geographieunterricht wurde von
einem Lehrer namens Hadj Mohamed erteilt. Er
stammte aus einem Dorf fünf Kilometer von
Tafraoute. Trotz seines schlechten Augenlichts
weigerte er sich strikt, eine Brille zu tragen,
da er alles verwarf, was nicht von Gott
geschaffen worden war. Beispielsweise lehnte er
es strikt ab, Bus zu fahren, und ritt
stattdessen auf einem Geschöpf Gottes zur
Schule, nämlich einem Esel. Jeden Tag ritt
er auf seinem Esel fünf Kilometer bis zur
Schule. Er hängte eine Karte von Marokko an
die Tafel und sagte dazu nur: öHier ist
Marokko, wiederholt alle, hier ist Marokko. Hier
ist Casablanca, sprecht mir nach, hier ist
Casablanca. So hat Gott Marokko geschaffen,
wiederholt das alle dreimal."
Auf diese Weise ging es weiter. Wir
plapperten alles nach, was uns der Lehrer
vorsagte. Während der Pausen neckten wir
seinen Esel. Eines schönen Tages kam er
aber ohne Esel zur Schule, und wir erfuhren,
dass er geheiratet und dass seine Frau ihm ein
Ultimatum gestellt hatte: Der Esel oder ich! Sie
war jünger als er und eine Emanze. Rund
einen Monat später kam er wieder zur Schule
geritten. Er hatte sich für den Esel
entschieden und sich von seiner Frau scheiden
lassen.
Meine Zeit an dieser Schule dauerte nur zwei
Jahre statt fünf, wie es üblich
gewesen wäre. Man händigte mir ein
Zeugnis aus, welches besagte, dass ich die
marokkanische Grundschule (öcole
primaireö) absolviert hatte, und ich durfte
meine Ausbildung fortsetzen. In Tafraoute gab es
kein Gymnasium, nur in Tiznit, achtzig Kilometer
weiter nördlich, und dort kostete der
Aufenthalt im Internat Geld, während der
Unterricht selbst kostenlos war.
Ich konnte also aufs Gymnasium gehen. Dieses
dauerte sechs Jahre und zerfiel in zwei Stufen.
Die erste, dreijährige Stufe ("cole
secondaire") wurde mit einem Diplom
(öbrevetö) abgeschlossen, die zweite,
gleichfalls drei Jahre dauernde Stufe ("cours
complmentaire") mit dem Abitur
("baccalaurat"). In Tiznit gab es nur die
erste Stufe. Wer auch die zweite absolvieren
wollte, musste nach Agadir, 150 Kilometer
nördlich von Tafraoute, oder nach
Casablanca, 700 Kilometer weiter nördlich,
ziehen.
Mein Vater sträubte sich auch weiterhin
mit Zähnen und Klauen gegen meinen
Schulbesuch, aber ich sprach wiederum mit dem
Kaiden, der sich bereit erklärte, die 400
Dirham pro Quartal zu bezahlen, die das Internat
in Tiznit kostete. Das war zu jener Zeit ein
Haufen Geld, und er zahlte es aus seiner eigenen
Tasche. Jeden Monat sandte er mir einen Brief,
in dem er mich mahnte, recht fleissig zu
lernen.
Als mein erstes Schuljahr in Tiznit zu Ende
ging, wurde der Kaid abgesetzt. Wie sollte ich
nun meine Ausbildung fortsetzen? Der Rektor, ein
bösartiger und prügelfreudiger
Franzose namens Pruvost, sagte mir, die einzige
Möglichkeit, ein Stipendium zu erhalten,
bestehe darin, einen Vertrag zu unterschreiben,
in dem ich mich dazu verpflichtete, die ersten
drei Jahre auf dem Gymnasium abzuschliessen und
dann als Lehrer an der Grundschule ("cole
primaire") zu arbeiten. Dies bedeutete aber,
dass ich die oberen drei Gymnasialklassen nicht
besuchen und somit kein Abitur machen konnte.
Ich wollte nicht in diesen Vorschlag
einwilligen, aber er wurde zornig und zwang mich
dazu.
Kleine Kinder zu unterrichten war nun
wirklich nicht das, was mir vorschwebte. Ich
wollte Nasser nacheifern und wie er für die
Freiheit und gegen die sozialen
Ungerechtigkeiten kämpfen, indem ich die
Monarchie stützte. So unterzeichnete ich
zwar wie verlangt den Vertrag, nahm mir aber
heimlich vor, der Schule in Tiznit zu gegebener
Zeit den Rücken zu kehren.
Wegen all des Unrechts, das ich als Kind
miterleben musste, reifte ich schon
frühzeitig. Ich entwickelte
ungewöhnlich früh ein politisches
Bewusstsein und nahm bereits zur Schulzeit in
Tiznit eine ganz klare politische Stellung ein.
Ich hatte von den gesellschaftlichen
Ungerechtigkeiten nicht in Büchern gelesen,
sondern sie am eigenen Leibe erfahren.
Dass Hadj Ahmed am Ende meines ersten
Schuljahres seines Amtes enthoben wurde, habe
ich bereits erwähnt. Er starb ein paar
Jahre später unter ungeklärten
Umständen in seinem Dorfe Issy, vierzig
Kilometer südlich von Tafraoute. Die Leute
erzählten sich, die Agenten des Königs
seien hinter dem Mord gestanden. Auf lokaler
Ebene war Hadj Ahmed für mich ein Beweis
dafür, dass es möglich ist, sich
tatkräftig für soziale Gerechtigkeit
und Demokratie einzusetzen.
Was die landesweite und die internationale
Politik betraf, war mein Vorbild aber Nasser. Er
bezeugte durch seine Taten, dass es möglich
ist, den Kolonialismus und den Neokolonialismus
zu überwinden und die Monarchie zu
zerschlagen, welche die Spitze eines morschen
und tyrannischen Systems bildet. Die politischen
Parteien Marokkos sind ein Teil dieses Systems.
An ihrer Spitze steht eine korrumpierte Elite,
die selbst kulturell und intellektuell
kolonisiert und verdorben ist. Wenn ich in
Tafraoute am Rundfunk Nassers politischen Reden
in der Sendung "Stimme der Araber" von Kairo
lauschte, verspürte ich, dass dieser Mann
meine eigenen Ideen ausdrückte, dass sein
Traum auch meiner war und dass er der geborene
Führer der Araber und Muselmanen war.
Bereits damals fühlte ich, dass ich, obwohl
noch ein Kind, mit Nasser für eine
gerechtere Gesellschaft und für eine
bessere Zukunft kämpfen, also die Welt
verändern musste.
Aber wie? Zuerst musste ich eine
gründliche Ausbildung erlangen, wie mein
Idol und Führer Nasser, dachte ich. Doch
der Besuch des Gymnasiums in Tiznit
befähigte mich lediglich dazu,
Grundschullehrer zu werden. Dadurch wurden meine
Chancen zur Verwirklichung meines Traums und zu
einem grossen Einsatz für mein Vaterland
empfindlich geschmälert.
Ich fühle mich als Weltenbürger.
Ich bin gegen engstirnigen Nationalismus,
besonders wenn er aggressiv und rassistisch ist.
Der Nationalismus ist eine notwendige Waffe im
Kampf zur Befreiung seines Landes oder Volkes,
doch dann sollte man ihn über Bord werfen.
Der aggressive und rassistische Nationalismus,
der in Europa die Grundlage für
Chauvinismus, Expansionismus und Völkerhass
gebildet hat, ist widernatürlich und
schimpflich.
Meine Bewunderung für den Kampf, den
Nasser in gypten führte, war für mich
gleichbedeutend mit einer frühzeitigen
Überwindung eines engen marokkanischen
Nationalismus. Mit der damals erworbenen
Einstellung fühlte ich mich nicht als
Fremdling, als ich später nach Schweden
kam. Ich bin in allererster Linie ein Mensch,
und dem Kampf für den Menschen gilt mein
ganzes Dasein.
Da ich mit dem despotischen Rektor, der mich
nur drei Jahre lang aufs Gymnasium gehen lassen
wollte, nicht vernünftig reden konnte,
beschloss ich in aller Heimlichkeit, einen
kleinen Coup zu unternehmen. Der
französischer Rektor war ein durch und
durch widerwärtiger Geselle und
prügelte die Kinder mitleidlos. Diesem Kerl
wollte ich einen Streich spielen. Doch zuvor
brauchte ich mein Diplom, welches bewies, dass
ich zwei Jahre lang die untere Gymnasialstufe
besucht hatte.
Eines schönen Tages im Oktober 1960
sagte ich dem Lehrer, ich wolle im Klassenzimmer
sauber machen. Ich bekam die Schlüssel zum
Schulsaal und ging zu einem Schrank, der die
Dossiers mit unseren Zeugnissen enthielt. Ich
nahm meine Papiere heraus, und am Tag darauf
stieg ich sehr zeitig auf und sagte der Schule
auf Nimmer- wiedersehen. In der Tasche hatte ich
keinen roten Heller, doch nahm mich ein
Buschauffeur, der meinen Vater kannte, nach
Casablanca mit.
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