Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie

Ahmed Rami

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Ein junger Freiheitskämpfer

 

Als ich das erste Mal nach Casablanca kam, musste ich wie ein Sklave schuften: ohne Lohn, ohne anständigen Ort zum Schlafen, ohne Freunde, ohne irgendwelche Menschenrechte. So wie mir erging es Millionen von Kindern im ganzen Land. Nun sah ich die Stadt wieder, aber diesmal wollte ich zur Schule gehen. Ich traf nachts ein, und es gab keinen Ort, wo ich wohnen konnte. So schlief ich auf der Strasse, indem ich meine Tasche als Kissen benutzte. Ich muss damals 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein.

Am folgenden Morgen begab ich mich zu einem bekannten, wohlhabenden Mann, der sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem schwarzen Markt eine goldene Nase verdient hatte. Er stammte aus Souss und konnte weder lesen noch schreiben. Ich hatte vernommen, es gebe in Casablanca ein Internat für heimatlose Kinder, und der betreffende Geldsack sitze im Vorstand des Vereins, dem das Internat gehörte. Er hiess Hadj Abd und war ein typischer Vertreter der parasitären Schicht von Neureichen.

In Souss wussten alle, wo sein Haus in Casablanca lag. Dorthin ging ich also und klopfte an die Tür. Ich sagte, ich sei ein heimatloses Kind und wolle gerne weiter zur Schule gehen, besitze aber keinen roten Heller. Hadj Abd wunderte sich nicht schlecht. Wir sprachen zunächst zusammen ein Gebet; anschliessend eröffnete er mir, es gebe seines Wissens im Internat keinen freien Platz mehr, doch gab er mit einen Wisch mit und schickte mich mit diesem zum Internatsleiter.

Ich wurde wider Erwarten aufgenommen, musste aber auf dem Boden schlafen. Trotzdem war ich überglücklich. Das Essen war miserabel und die hygienischen Zustände kläglich. Ich kam zu zwei anderen Schülern ins Zimmer. Der eine hiess Adel. Sie gaben mir eine Decke, in die ich mich beim Schlafen auf dem Fussboden wickelte. Eine Woche später wurde mir ein Bett zugewiesen. Nun gab es also einen Ort, wo ich schlafen und essen konnte. Als nächstes machte ich mich auf die Suche nach einem Gymnasium, das bereit war, mich aufzunehmen.

 

 

Ich suchte ein grosses Gymnasium auf, das nach dem damaligen Kronprinzen "Lyc‚e Moulay Hassan" benannt war. Da ich die nötigen Unterlagen vorweisen konnte, liess man mich zum zweiten Jahreskurs zu. Die Lehrer waren unter aller Kritik, und ich merkte bald, dass der Unterricht für mich nur Zeitverschwendung war. Deshalb studierte ich Tag und Nacht auf eigene Faust. Die anderen Kinder waren acht Jahre lang auf die gewöhnliche Schule gegangen und hatten es deswegen nicht so eilig wie ich. Im Gegensatz zu den Kindern aus reichen Familien ging ich nun nicht zur Schule, weil ich musste, sondern weil ich wollte. Ohne Abitur (Baccalaur‚at) sah ich für mich keine Sicherheit und Zukunft. Es war geradezu eine Existenzfrage für mich, dass ich das Abitur schaffte.

Dies war im Schuljahr 1960/61. Ich wollte das Abitur so rasch wie möglich bestehen. Deswegen bereitete ich mich privat auf die Prüfung vor. Eigentlich hätte ich noch volle fünf Jahre lang zur Schule gehen müssen, doch schon nach einem Schuljahr fühlte ich mich reif für die Abschlussprüfung. Deshalb reichte ich beim Erziehungsministerium einen Antrag auf Zulassung zur Abiturprüfung als Privatstudent ein. Dem Ersuchen wurde stattgegeben. Sobald das Schuljahr zu Ende war, durfte ich an der Prüfung teilnehmen, und zu meiner grossen Überraschung schaffte ich sie auf Anhieb.

Meine Klassenkameraden hatten nun noch vier Schuljahre vor sich. Nach zwei Jahren Lehrerseminar wurde ich anno 1963 Gymnasial- lehrer. Über eine allzu lange Schulzeit konnte ich mich wahrlich nicht beschweren, denn ich hatte insgesamt ganze drei Jahre lang die Schulbank gedrückt und dabei die Anfänger-, Mittel- und Gymnasialstufe absolviert. Nach weiteren zwei Jahren hatte ich auch eine akademische Ausbildung, das Lehrerseminar, hinter mir.

Wohl nahmen mich meine Studien auf dem Gymnasium und am Lehrerseminar sehr in Anspruch, doch las ich gleichzeitig viel über Politik. Manche der damals verschlungenen Bücher prägten mich stark und vertieften mein Bewusstsein. Ich las den Koran und einige Bücher von Nasser (Revolutionsphilosophie), Chakib Arsalan (öWeshalb sind die Muslime heute unterentwickelt?ö) sowie Khalid Mohamed Khalid (öBürger, nicht Sklavenö).

Zudem führte ich mir zahlreiche Schriften über Nasser, Ben Bella, Abdelkrim al-Khatabi, Abdelkader al-Jazairi etc. zu Gemüt. Ich sass auch oft vor dem Radio und hörte die "Stimme der Araber" aus Kairo; der marokkanische Rundfunk war in meinen Augen bloss ein Instrument zur Verbreitung heuchlerischer Lügenpropaganda.

Einen nachhaltigen Eindruck hinterliess auf mich auch Victor Hugos grosser Roman "Les Mis‚rables", weil ich mich selbst als eine Art Stiefkind des Schicksals betrachtete. Doch rührt Hugos Buch lediglich zu Tränen, ohne eine Lösung anzubieten oder Hinweise darauf zu vermitteln, wie man die sozialen Ungerechtigkeiten beseitigt, welche Stiefkinder des Schicksals wie mich erzeugen. Die grösste Inspiration bedeuteten für mich der Koran , das kleine, mir seinerzeit vom Caiden zum Geschenk überreichte "Hadithö-Buch sowie Nassers Revolution gegen Tyrannei, Kapitalismus und Kommunismus.

Doch nun war die ganze politische Elite, die der Kolonialismus in Marokko herangezüchtet und ausgebildet hatte, in ideologischer und politischer Richtung westlich geprägt. Deshalb waren alle von dieser Elite nach der Unabhängigkeit gegründeten Parteien westlich: liberal, kapitalistisch oder marxistisch. Als Folge dieser Entwicklung gab es keine selbständige islamische Bewegung und auch keine islamistische Partei. Wir sahen uns der Tatsache gegenüber, dass es dem französischen Kolonialismus zumindest vorläufig gelungen war, uns seine kulturelle, sprachliche und ideologische Vormundschaft aufzu- zwingen.

Alle zugelassenen, "gemässigten" marokkanischen Parteien sind eine Art Importware aus Frankreich. 45 Jahre französischer Herrschaft liessen mehrere frankophone Generationen entstehen, welche das Gedankengut des Kolonialismus weiterführten. Nach der Erlangung seiner Selbständigkeit benötigt Marokko deshalb weitere 45 Jahre, um das geistige Joch des Neokolonialismus abzuschütteln und eine befreite, wahrhaftig unabhängige islamische Gesellschaft zu schaffen, die in kultureller, ideologischer und politischer Hinsicht unsere eigenen Werte und Traditionen verkörpert.

 

 

Dies alles empfand ich, als ich begann, auf islamischer Grundlage für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Alle legalen Parteien und Organisationen wurden von wohlhabenden, privilegierten Leuten mit neokolonialistischer Mentalität sowie von deren Kindern geführt, die sich zum Marxismus oder Liberalismus bekannten!

1960 trat ich der politischen Studentenorganisation UNEM (Union Nationale des tudiants du Maroc) bei. 1961 wurde ich Mitglied der UNFP, obschon mir klar war, dass die Parteiführung aus Opportunisten bestand. Es gab einfach keine Alternative. Im darauffolgenden Jahr, also 1962, hielt ich meine erste politische Rede, und zwar bei einer grossen Versammlung an der Messe von Casablanca. Wie bereits früher erwähnt, hatte der König dem Volk eine neue Verfassung vorgelegt, und das Volk sollte diese nun gutheissen oder verwerfen. Das Ganze war eine reine Farce, und ich sprach mich für einen Boykott aus. Wir wollten eine vom Volk und nicht vom Monarchen gewählte Versammlung. Garantien gegen Wahlbetrug gab es keine.

Zum ersten Mal wurde ich als militantes Basismitglied der UNFP verhaftet, während einige Männer aus der Führungsspitze der Partei gleichzeitig im Palast sassen und im wahrsten Sinne des Wortes mit dem König Poker spielten. Am Tag nach meiner Rede sass ich als Parteivertreter in Maƒrif, einem Stadtteil von Casablanca, um die Wahl zu überwachen. Ich hatte recht viel über wahltechnische Fragen gelernt und kannte die Regeln.

Am Abstimmungstag selbst durfte keine Propaganda gemacht werden, doch in der Schule, wo das Wahllokal für unseren Bezirk eingerichtet war, galt diese Regel nicht - wie auch in den anderen Abstimmungslokalen des Landes. Auf dem Schulhof stand eine lange Reihe von Menschen, die abstimmen wollten, aus lauter Furcht vor einer Bestrafung, wenn sie dem König ihre Stimme verweigerten. Die meisten waren Analphabeten. Ca. 70% der marokkanischen Bevölkerung können weder lesen noch schreiben. Deshalb war das Ja und das Nein jeweils durch eine Farbe gekennzeichnet.

 

Die weisse Farbe stand für das Ja. Auf Arabisch heisst verwenden wir für "weiss" dasselbe Wort wie für "Ei", nämlich "beda". Ich sah einen Polizisten in Zivil, der auf dem Schulhof umherging, während die Leute Schlange standen, und dabei Eier verteilte. Dabei ermunterte er sie, öweiss" zu stimmen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass eine solche Wählerbeeinflussung am Abstimmungstag nicht gestattet war. öWenn du so weitermachst", rief ich, "dann hole ich Brot und schneide es für das Volk" (das Verb für "schneiden" wird im Arabischen auch für "boykottieren" benutzt).

Nach einer Weile tauchten zwei weitere, ebenfalls in Zivil gekleidete Polizisten auf und nahmen mich fest. Auf dem Polizeiposten machten sich die Bullen über mich lustig, weil ich die Wahlen ernst nahm. Drei Tage lang blieb ich in Polizeigewahrsam. Man misshandelte mich, unter anderem, indem man elektrische Kabel um meine Finger wickelte und Stromstösse hindurchjagte. Die Misshandlung von Verhafteten ist bei der marokkanischen Polizei gang und gäbe.

Die UNFP-Sektion, der ich angehörte, war im Stadtteil Derb Ghalef in Casablanca beheimatet. Allerdings lag ich ideologisch nicht auf der Parteilinie. Ich war in allererster Linie Islamist, d.h. ich wollte mich für einen Staat einsetzen, der für Panislamismus und Panarabismus, für islamische Werte und für politische wie wirtschaftliche Demokratie stand. Für letztere verwenden wir den Begriff "shoran".

Diese Punkte standen nicht im UNFP-Programm. Die Partei war nicht eindeutig sozialistisch, nicht eindeutig panarabisch und nicht eindeutig islamisch. An ihrer Spitze stand eine getarnte marxistische Elite. Die Partei war als Kompromiss zwischen verschiedenen Personen aus verschiedenen Interessengruppen entstanden. Ihr gebrach es an einer klaren ideologischen Linie, und doch genoss sie eine gewisse Unterstützung durch das Volk, weil es einfach nichts Besseres gab.

Andererseits war diese vage ideologische Ausrichtung auch eine Stärke. Im Grunde genommen war die UNFP eher eine Front als eine Partei. Die Ideologie der marokkanischen Eliten ist von Heuchelei und Opportunismus geprägt.

1963 wanderte der gesamte nichtmarxistische Teil der Parteiführung auf Geheiss des Königs hinter Gitter, worauf die Kommunisten das Szepter übernahmen und die UNFP zu einer reinen Kommunistenpartei wurden, genau wie es der König bezweckt hatte. Ich war gegen den Kommunismus und die Kommunisten, die bloss das sowjetische System kopieren wollten, folglich antiislamisch waren, unsere eigene Kultur zerstören und die bestehende Diktatur durch eine noch schlimmere ersetzen wollten. Die Tragödie, die sich später in Afghanistan ereignet hat, illustriert die Ziele und Methoden der Kommunisten sehr anschaulich.

Schon als Kind geriet ich durch die Sendungen von Radio Kairo (öStimme der Araberö) in Berührung mit den Gedanken Nassers. Ich hörte von jenem ägyptischen Offizier, der mit Unterstützung des Volkes König Faruk gestürzt, die Monarchie abgeschafft und den Engländern die Stirn geboten hatte. Vor Nasser war die arabische Welt unter Engländern und Franzosen aufgeteilt, aber nun hörten wir zum ersten Male eine arabische Stimme, die Stimme eines Mannes, der weder für den Osten noch für den Westen war, sondern für wahhaftige Unabhängigkeit stand. "Die Hauptstadt gyptens ist weder London noch Paris noch Washington, sondern Kairo", sagte Nasser.

Die ägyptische Revolution hatte im Juli 1952 stattgefunden, in jenem Jahr, als ich das erste Mal nach Casablanca kam. Im gleichen Jahr brach auch ein Streik in Tunesien aus, in dessen Folge die Franzosen den tunesischen Führer Farhat Hachad umbrachten. Diese Ereignisse erregten in Marokko beträchtliches Aufsehen, weil sie bewiesen, dass es doch noch Leute gab, die es wagten, sich den Kolonialherren entgegenzustellen. Die ägyptische Revolution war dabei der zündende Funke!

Ich bewunderte Nasser vor allem deshalb, weil er 1956 den Suezkanal nationalisiert und dann Widerstand gegen die englisch-französisch- israelische Aggression geleistet hatte. Doch ging meine Bewunderung auch darauf zurück, dass er mit der verrotteten Monarchie in seinem Land Schluss gemacht hatte. Mir schien es durchaus möglich, diesem Beispiel in Marokko zu folgen.

Wir Jugendlichen stützten uns zur Gewinnung von Informationen über Nassers Ideengut hauptsächlich auf die Sendungen von "Stimme der Araber", die sich an die gesamte arabische Welt wandten. In allen arabischen Staaten lauschten die Menschen diesen Sendungen, und Nassers Stimme schien auch mir zuzurufen, ich solle mich gegen die Ungerechtigkeit zur Wehr setzen. Die Revolutionen Nassers in gypten und Ben Bellas in Algerien, der siegreiche Widerstandskampf des afghanischen Volkes gegen den Sowjetimperialismus, die islam-ische Revolution im Iran sowie die palästinensische Intifadda - dies sind die grössten islamischen Revolutionen der modernen Zeit, und für kommende islamische Generationen werden sie immer Inspirations- quellen bleiben.

Ungeachtet all der Fehler, die begangen wurden, lag ihnen allen ehrliche Überzeugung zugrunde, und sie haben gezeigt, was die Moslems erreichen können, wenn sie es nur schaffen, sich in einem islamischen Jihad zur Schaffung von Freiheit, Demokratie (Shora) und soziale Gerechtigkeit zu vereinen. Nur wer nichts tut, begeht keine Fehler. Kritisieren ist leicht. Die beste Kritik liegt in der Tat, im Vorangehen mit gutem Beispiel.

Als ich meinen politischen Kampf begann, gab es keine islamische Partei in Marokko. Eigentlich passte mir überhaupt keine der bestehenden Parteien in den Kram. Trotz all ihrer Mängel stand mir die UNFP noch am nächsten. Die Istiqlal war seit der Abspaltung der UNFP eine reaktionäre Partei geworden und kämpfte hauptsächlich noch für die Privilegien der Oberklasse. Zudem wurde diese Partei von Leuten aus Fes (öFassi" genannt) dominiert, denen es geglückt war, viel zu viel Macht und Vorrechte zu erringen und viel zu grossen Einfluss in der Gesellschaft und im Staatsapparat zu erlangen. - Es versteht sich von selbst, dass ich mit diesen "Fassi" eine politisch und wirtschaftliche privilegierte und nicht eine ethnische Gruppe meine.

Zwei Jahre lang wohnte ich also im Internat. Das Leben war für mich kein Honiglecken; ich ging nie ins Kino, sondern widmete mich voll und ganz meiner Ausbildung. Schliesslich galt es die Zeit wettzu- machen, die ich als Kind verloren hatte, weil ich arbeiten musste.

 

Ich habe niemals geraucht, niemals Wein oder Schnaps getrunken oder Haschisch genommen. Ich ass sehr einfach und nahm alles zu mir, was man mir auftischte, gleichgültig wie es schmeckte - um zu überleben. So führte ich ein durch und durch einfaches und unkompliziertes Leben, obgleich Casablanca, wie jede grosse Stadt, ein Hort der Korruption ist.

Während meines letzten Studienjahrs am Lehrerseminar wohne ich bei einem Vetter in Derb Galef, einem ärmlichen Stadtteil in Casablanca, der man fast schon als Elendsviertel bezeichnen kann. Mein Veter, Moh-Olhes, besass ein kleines Geschäft und ich teilte mein winziges Zimmer, das einem Grab ähnelte, mit einem seiner Söhne. Zu meinem Besitz zählte ich ein Fahrrad. Ich war sehr einsam, hatte kaum Freunde und unterhielt wenig Kontakt zu anderen Menschen. Ein allzu geselliger Mensch war ich nie gewesen.

Als ich im Oktober 1963 Lehrer wurde, am gleichen Gymnasium, wo ich zuvor studiert hatte, begann ich meine alten Klassenkameraden zu unterrichten, die nun in der letzten Gymnasialklasse waren. Ich arbeitete drei Jahre lang, nämlich von Oktober 1963 bis Oktober 1966, als Lehrer, und zwar an insgesamt vier verschiedenen Schulen: Lyc‚e Mohamed V, Lyc‚e Fatima Zahra, CollÜge Chaouki und die Lehrerhochschule von Casablanca.

Gleichzeitig gab ich mich politischen Aktivitäten hin und bemühte mich, unter den Gymnasiasten von Casablanca eine islamistisch-nasseristische Untergrundorganisation auf die Beine zu stellen. Im Lyc‚e Mohamed V (früher Lyc‚e Moulay Hasan), wo ich als Lehrer tätig war, nahmen die Studentenunruhen von 1964 und 1965 ihren Anfang. Ich zog dabei die Fäden. Die Unruhen begannen 1964 und erreichten im März 1965 ihren Höhepunkt. Ich wurde am 23. März 1964 und genau ein Jahr darauf nochmals verhaftet.

Wir reagierten gegen die sozialen Ungerechtigkeiten, die Diktatur, das Tyrannenregiment - d.h. Erscheinungen, wie sie für die sogenannte Dritte Welt charakteristisch sind. In Marokko gelang es uns niemals, die Durchschnittsmenschen zur Revolte anzustacheln, auf die es doch in erster Linie ankommt.

Die Parallele zu den Oststaaten war ganz auffallend. Die Diktaturen in Ost und West ähneln sich. Dem Durchschnittsbürger wird dort eingetrichtert, dass er keine Rechte besitzt und dass Arbeitslosigkeit, Unrecht, Korruption und eine privilegierte Oberschicht ein naturgegebenes, unveränderliches Schicksal sind. In Tat und Wahrheit galt in Marokko kein Gesetz. Die Korruption war zum System geworden. Unbestechliche Beamte bildeten die Ausnahme.

Die politische Atmosphäre war sehr gespannt geworden, und was die Revolte auslöste, war eine neue Verordnung, der zufolge die Möglich- keiten gewisser Schüler, ihre Studien fortzuführen, eingeschränkt wurden. Der Staat konnte nicht jedermann die Möglichkeit zum Studium bieten, der sie verlangte. Es war ein Leichtes, die Schüler gegen diese neue Verordnung zu mobilisieren, und so kam es zu heftigen Unruhen.

Der Demonstrationszug ging von unserer Schule aus. Schon nach einigen hundert Metern begannen wir gegen den staatlichen öFünfjahresplan" für den Unterricht zu protestieren. Wir marschierten zur regionalen Sektion des Erziehungsdepartements. Da ich Lehrer war und die Schüler mich kannten, konnte ich die Kundgebung organisieren. Viele wünschten, ich solle eine Rede halten und darlegen, worum es ging. Man trug mich auf den Schultern. Ich hielt die verlangte Rede, wobei ich wortstark gegen die Diktatur, den Polizei- staat, die Regierung, die Korruption und den König zu Felde zog.

Während ich sprach, teilte man mir mit, die Polizei sei unterwegs. Ich sagte, wir sollten keine Furcht vor der Polizei haben und nicht wie Feiglinge davonlaufen, sondern uns auf einen Zusammenstoss mit der Polizei vorbereiten. Sobald die Polizisten eingetroffen waren, begannen sie auf die Studenten loszudreschen. Wir wichen nun in Richtung auf die Armenviertel aus. Viele Arbeitslose schlossen sich uns an, und die Demonstration nahm einen ausgeprägteren politischen Charakter an. Dies erfolgte sehr rasch. Man begann das Zentralgefängnis und zahlreiche andere "ffentliche Gebäude zu stürmen. Schon nach ein paar Stunden war Casablanca nicht mehr unter der Kontrolle des Staates.

 

So fing es an. Meine Rolle bei der Revolte bestand darin, die Verbreitung von Flugblättern durch meine Schüler zu organisieren, durch welche andere mobilisiert werden sollten. Wir hatten eine Gruppe gebildet, die die verschiedenen Demonstrationszüge zu ver-schiedenen Zielorten führen sollte. Später wurden allerlei Märchen-geschichten erzählt, und meine Rolle bei der Revolte wurde stark übertrieben; über mich kursierten die wildesten Gerüchte.

Ein Schüler berichtete, er habe gehört, dass ich einen Bus besetzt habe, damit auf das Tor des Zentralgefängnisses losgefahren sei und dieses gesprengt hatte. Nichts daran stimmte. Nach meiner Verhaftung wurde ich allerdings zu diesen Gerüchten befragt, welche für die Polizei Tatsachen waren. Ich konnte beweisen, dass ich nicht in der Nähe des Gefängnisses war, als dies geschah. Mindestens 500 Menschen kamen uns Leben; unzählige wurden verletzt. Die Zahl der Festgenommenen ging in die Tausende.

Diese Geschehnisse bestärkten mich in meiner Auffassung, dass man in einem Diktaturstaat keinen unbewaffneten Widerstand gegen Armee, Gendarmerie und Panzer leisten kann. Schon Nasser hatte sich als Zivilist bemüht, das System zu bekämpfen, doch war er dabei gescheitert. Ich hatte dem Glauben gehuldigt, man könne durch Mobili- sierung der "ffentlichen Meinung sowie durch Kundgebungen etwas erreichen, aber die demokratischen Voraussetzungen dazu fehlten.

Als ich nach dem Examen meine Lehrerlaufbahn begann, dauerte es sechs Monate, ehe meine Kollegen und ich unseren Lohn erhielten. Zusammen mit ein paar anderen Lehrern beschloss ich, dagegen zu demonstrieren. Wir fuhren nach Rabat und setzten uns vor dem Erziehungsministerium auf den Boden. An diesem Sitzstreik nahmen 30 Leute teil. Nach ein paar Minuten rückte eine Polizeieinheit an und umzingelte uns. Ein arroganter Kommissar kam auf uns zu und begann über uns zu lachen: "Meine Heren, glauben Sie denn eigentlich, Sie seien hier in Schweden?"

Dies war das erste Mal, das ich auf den Namen "SuÜde", Schweden, aufmerksam wurde. Mir ging es bei dieser Gelegenheit auf, wie absurd es doch eigentlich war, eine Diktatur mit demokratischen Mitteln bekämpfen zu wollen. 53 Aber, so dachte ich mir, wenn wir die Tanks nicht stoppen können, so müssen wir sie eben fahren. Wir jungen Männer wurden gebraucht, um uns ans Steuer der Tanks zu setzen. Deshalb reifte in mir der Plan, mich um eine Aufnahme an der Militärakademie zu bewerben. Ich wollte Offizier werden.

Als Antwort auf den Sitzstreik wurde ich an meinem Wohnsitz vorübergehend festgenommen. Bei einem früheren Anlass, im März 1964, kam die Polizei in meine Schule und verhaftete mich nach einer Demonstration. Damals hatte ich Glück, denn meine Schüler sahen, dass ich abgeführt wurde, und begannen zu streiken, worauf ich nach der unvermeidlichen routinemässigen Misshandlung freigelassen wurde. Die Tochter des Polizeikommissars hiess Husseini und war eine meiner Schülerinnen.

Aber im März 1965 stattete die Polizei mir an meinem Wohnsitz einen Besuch ab, und die Schüler wussten nicht, was passiert war. Dass ich Lehrer war, erwies sich als hilfreich, denn man hätte es ja sofort gemerkt, wenn ich längere Zeit abwesend gewesen wäre. In Marokko sind Schüler und Studenten allgemein weit stärker politisiert als der Rest der Gesellschaft. Wäre ich ein gewöhnlicher Arbeiter gewesen, so wäre ich vielleicht für immer verschwunden, wie es Hunderten von Menschen in Marokko widerfahren ist. Das schlimmste Vergehen, dessen man sich in jenem Lande schuldig machen kann, besteht darin, ösich in die Politik einzumischen".

Wird man aufgrund dieses Delikts festgenommen, so werden beim Verhör die üblichen Fragen gestellt. Dabei wird der Befragte stets misshandelt, selbst wenn es nur um ganz einfache Fragen geht, etwa um die, welcher Organisation man angehört oder was man getan hat. Mir wurde vorgeworfen, dass ich die Schüler zum Streik aufgewiegelt und Demonstrationen angezettelt hätte. Ferner hätte ich gegen den König gehetzt und die Monarchie geschmäht; ich hätte zuviel von der französischen Revolution geredet und dabei Ludwig XVI auf beleidigende Weise erwähnt; ferner hätte ich behauptet, dass der Islam die Monarchie ablehnt und die Könige als die Verderber der Gesellschaft bezeichnet.

Ich erinnere mich noch lebhaft an die Umstände, unter denen mein Verhör stattfand. Die Verhältnisse in der Zelle waren barbarisch. Auf höchstens vier Quadratmetern waren zehn Menschen zusammen- gepfercht. Alle halbe Stunde wurde Wasser in eine der Ecken gespült. Alle Viertelstunde "ffnete der Wärter die Lucke in der Metalltüre und leuchtete mit der Lampe in die Zelle. Wir kamen uns vor wie Ratten. Es gab kein elektrisches Licht, und das einzige Geräusch kam von dem ab und zu durch das Toilettenloch im Fussboden rinnenden Wasser.

Nach einer Woche wurde ich auf freien Fuss gesetzt, da man weiteren Schülerprotesten vorbeugen wollte. Die Krawalle waren schliesslich von den Schulen ausgegangen, und die Behörden wollten zusätzliche Unruhen und Streiks vermeiden.

Immer, wenn ich nach einer Verhaftung die Polizeistation verliess, fühlte ich mich als unbewaffneter Zivilist noch machtloser und hilfloser als je zuvor. Wie leicht hätten die Polizisten mich doch töten können, als ich in der Zelle sass! So war es mit Hunderten von anderen Gefangenen geschehen.

Nun war die Zeit gekommen, wo ich den Beschluss fasste, Offizier zu werden. Der einzige normale Weg zur Offizierskarriere verläuft durch die königliche Militärakademi in Meknes. Dort meldete ich mich im Herbst 1965 an.

Einige Tage darauf wurde Ben Barka in Paris auf offener Strasse entführt. Ben Barka war ein typischer, gebildeter französischer Sozialist im marokkanischen Gewande. Er war gewissermassen eine Mischung von Fran‡ois Mitterrand (ein Linksmacchiavellist) und Edgar Faure (ein Rechtsmacchiavellist).

Als Opportunist hatte er tatkräftig dazu beigetragen, Hassan dem Zweiten an die Macht zu helfen, und nun war er zum Opfer des Despoten geworden. "Nein", dachte ich mir, "Ben Barkas Weg führt nur zum marokkanischen Palast und nach Paris. Ich muss mich dem Heer anschliessen, damit sich mir die Chance bietet, die Probleme Marokkos auf radikale Weise zu lösen."

 

Auf der Militärakademie klärte man mich darüber auf, dass ich die Erlaubnis des Erziehungsministers benötigen würde, um eine militärische Karriere einschlagen zu dürfen. Schliesslich war ich Lehrer. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ich fand mich widerwillig mit der abschlägigen Antwort ab und unterrichtete weiter in Casablanca.

Am Ende des Schuljahres 1965/1966 bewarb ich mich abermals um die Aufnahme an die Militärakademie. Ich suchte das Verteidigungs- ministerium auf und traf mich mit Minister Ahrdan, einem Französling, der während der Kolonialzeit Offizier in der französischen Armee gewesen war. Nach der Selbständigkeit wurde er zu einer Art Politclown und ideologischem Scharlatan. Ahrdan verwies mich an den Kabinettssekretär und Generalsekretär im Verteidigungsministerium, der direkten Kontakt mit dem König hatte.

Dieser hiess Ben Haroche, bekleidete den Rang eines Majors und war zionistischer Jude. Er war nächst dem König der eigentliche Machthaber im Verteidigungsministerium. Major Ben Haroche empfing mich, um mir mitzuteilen, dass ich nicht die geringste Chance hatte, zur Militärakademie zugelassen zu werden, doch stehe es mir frei, mich mit dem Leiter der Akademie in Verbindung zu setzen.

Ich folgte diesem Rat, doch erfolglos. Da begab ich mich direkt zum Königspalast, wo ich eine Audienz beim Chef des königlichen Militärstabs verlangte. Dies war General Madbouh. In Marokko liegt der Weg zum Erfolg in persönlichen Kontakten und in der Korruption. Es glückte mir, Madbouh von meiner Berufung für die militärische Laufbahn zu überzeugen.

Binnen zwei Jahren war ich ein perfekter Offiziersaspirant, was unter anderem dazu führte, dass ich zum Chefredaktor der Akademie- zeitschrift "Le Flambeau" (öDie Fackelö) ernannte wurde. 1968 wurde ich Offizier. Der einzige Verweis, der mir während der Zeit in Maknes erteilt wurde, ging darauf zurück, dass ich mich zusammen mit einigen Kameraden weigerte, an einem Nachtmarsch teilzunehmen. Diese Befehlsverweigerung, die dazu führte, dass wir 27 Aspiranten nach Ahermoumou strafversetzt wurden, war von den "Freien Offizieren" geplant worden.

Während meiner Zeit in der Militärakademi war ich nämlich mit anderen Gegnern der korrupten marokkanischen Monarchie in Kontakt gekommen. Offenbar war ein Staatsstreich die einzige Möglichkeit, eine Veränderung zustande zu bringen, und in der Armee hatte man zu diesem Zweck eine geheime Organisation gebildet, die sich "die Freien Offiziere" (öles Officiers Libresö) nannte. Zu dieser Organisation hatte ich mich angeschlossen.

In Ahermoumou befand sich, wie bereits erwähnt, die Unteroffiziers- ausbildungsschule. Sie lag auf einem Bergplateau, achtzig Kilometer von der Stadt entfernt. Oberstleutnant Ababou war damals Schulkommandant. Wieder führte mich mein Geschick dort mit einem Mann zusammen, der sich im Kampf gegen die Monarchie auszeichnen sollte. Während Ababou in der Rif-Gegend in Nordmarokko geboren waren, stammte ich aus Tafraoute im Süden.

Bei einem Staatstreich galt es, die Kontrolle über die Hauptstadt Rabat, den Armeestab, das Innenministerium und die Radio- sowie Fernsehstationen zu übernehmen. Die ganze Operation war natürlich sehr riskant, aber bei guter Planung gar nicht aussichtslos. An den zwei Putschen, die tatsächlich versucht wurden, war ich selbst beteiligt, im ersten Fall mehr indirekt.

Der erste Putsch fand am 10. Juli 1971 statt. Aus Sicherheitsgründen und um jene zu schützen, die immer noch der marokkanischen Armee angehören, darf ich nicht alle Einzelheiten der Pläne sowie meiner Rolle preisgeben, aber manches kann jetzt enthüllt werden.

 

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1. Vorwort des Übersetzers

2.
Vorwort des Verfassers

3.
Meine Heimat

4.
Die ersten Jugendjahre

5.
Der Neokolonialismus

6.
Ein junger Freiheitskämpfer

7.
Die erste Revolte

8.
General Oufkir

9.
Neue Pläne für eine Revolte

10.
Ein misslungener Staatsstreich

11.
Die Flucht

12.
Das Schicksal General Dlimis

13.
Der König ist nackt !

14.
Warum das Militär ?

15.
Die islamische Welt

16.
In Schweden


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