Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie

Ahmed Rami

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Der Neokolonialismus

 

Schon bevor die Franzosen die Widerstandsbewegung auf dem Lande zerschlagen hatten, war die Vorstellung eines selbständigen Marokkos bei den Intellektuellen in den Städten populär. Zu Beginn der fünfziger Jahre konnten die französischen Besatzungsbehörden den Traum von der Freiheit nicht mehr wirksam unterdrücken, obgleich sie fleissigen Gebrauch von bewährten Repressionsmitteln wie Gefängnis, Verbannung und Pressezensur machten.

Ein letzter, verzweifelter Versuch, die Kontrolle über das Land wiederzugewinnen, bestand in der Verbannung des Sultans Mohamed V, den man der Unterstützung der Nationalisten bezichtigte. Diese Massnahme führte zu massiven Protesten und zog eine Reihe von Terroranschlägen in den Städten sowie auf dem Lande nach sich (es gab zwei kleine Untergrundbewegungen). Die von "bürgerlichen" Kräften beherrschte Istiqlal (Unabhängigkeitspartei) versuchte die nationale Woge zu kanalisieren. Sie forderte die Selbständigkeit, aber öunter Beibehaltung enger Beziehungen zur Metropole" (Paris). Ferner verlangte die Partei die Einführung der Demokratie bei gleichzeitiger Rückkehr des Sultans auf den Thron.

Nach zwei Jahren wachsender Proteste schlugen die Franzosen urplötzlich eine neue Taktik ein, und Marokko wurde unter der Führung des Palastes formal unabhängig. Zu jenem Zeitpunkt stand Frankreich wegen einer Reihe von Befreiungskriegen in verschiedenen Teilen seines Imperiums unter härtestem Druck. Der Krieg in Indochina hatte die französische Armee demoralisiert. 1954 fiel Dien Bien Phu, und gleichzeitig steigerten die nationalen Bewegungen in Marokko, Tunesien und nicht zuletzt Algerien ihre Aktivitäten.

An all diesen Fronten zugleich Krieg zu führen war nicht möglich. Frankreichs Anerkennung der marokkanischen Selbständigkeit im Jahre 1955, auf die im Jahr darauf die offizielle Unabhängigkeit folgte, zog zwei weitere Niederlagen für den Kolonialismus nach sich: die Selbständigkeit Tunesiens und das Genfer Indochina-Abkommen.

 

 

Für Paris galt es, die enormen französischen Kapitalinvestitionen in Marokko zu schützen und gleichzeitig alle Kräfte auf die Unter- drückung der erstarkenden Widerstandsbewegung in Algerien zu konzentrieren.

Vor der Kolonialzeit wurde Marokko von Sultanen regiert, die von einer Gruppe von "Ulama" (Religionsgelehrten; der Singular des Wortes lautet "Alimö) gewählt wurden. Marschall Lyautey, früherer Militärkommandant in Marokko und überzeugter Monarchist, wandelte das Sultanat in eine Monarchie europäischen Zuschnitts und den Sultan in einen König französischen Stils um. Der islamischen Lehre nach ist die Monarchie verboten. Der erste Schritt zur Kolonialisierung Marokkos bestand in der Errichtung dieser Staatsform, und dazu wurde ein Protektoratsabkommen zwischen Marokko und Frankreich unterzeichnet. Die Bauern erhoben sich und umzingelten die Stadt Fes, wo der Sultan damals residierte. Nun marschierte die französische Armee in Marokko ein, um die gefährdete Monarchie zu retten. Parallelen zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 sind da ganz offenkundig.

Die Kolonialzeit dauerte in Marokko 45 Jahre. Als sich der französische Kolonialismus ernsthaft bedroht sah, stützte er sich auf die Monarchie, um eine neokolonialistische Ordnung mit neuen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Formen zu errichten. Das öProtektorat" blieb so gewissermassen bestehen, aber im Rahmen einer öneuen Weltordnung", wo die Grossmächte sich direkte militärische Interventionen sparen können, solange lokale Laufburschen wie Hassan II, Najibullah oder Pinochet ihre Geschäfte verrichten.

Nach der Selbständigkeit konzentrierte König Mohamed V, ehemaliger Sultan, alle Macht in seinen Händen. Er hielt die bürgerlichen Politiker fest im Griff, indem er allgemeine Wahlen in Aussicht stellte, sobald das Land "reif" sei. Manchmal köderte er sie auch, indem er ihnen einen Platz in seiner Regierung einräumte. In Tat und Wahrheit änderte sich herzlich wenig an der alten Kolonialordnung. Sie wurde nur mit einer nationalen Fassade versehen. 1958, drei Jahre nach der Unabhängigkeit, standen weiterhin französische Richter an der Spitze der Gerichte.

Französische und jüdische Offiziere hatten Schlüssel-positionen in der Armee inne; französische Grossgrundbesitzer sassen unangefochten auf ihren Gütern; französische Wirtschaftskapitäne leiteten fast den gesamten modernen Industriesektor: Transport, Bergwerke, verarbeit- ende Industrie, Tagespresse, Banken, Ernährungs-industrie usw.

Der Handel floss weiterhin in Richtung Frankreich. Wie früher bildeten Orangen und Phosphat unsere Hauptexportgüter. Kostbare Devisen, die man zur Entwicklung einer industriellen Infrastruktur benötigt hätte, wurden stattdessen für den Import von Landwirtschafts-produkten wie Weizen und Zucker vergeudet, die man ohne weiteres selbst hätte anbauen sollen. Stattdessen wurde die Landwirtschaft einseitig auf den Export ausgerichtet. Ferner wurden Devisen in grossem Ausmass für den Kauf von Luxusartikeln für eine wachsende Oberschicht einschliesslich der zahlreichen Ausländer verschleudert.

Die Istiqlalpartei arbeitete praktisch mit dem Palast und ausländischen Kapitalinteressen zusammen, um die bestehende Ordnung aufrecht- zuerhalten. Viele unabhängige Gruppen, die während des Befreiungs- kampfes entstanden waren, gerieten unter staatliche Kontrolle. Die bürgerlichen Politiker erwiesen sich als gänzlich unfähig, der Monarchie die Macht zu entreissen.

Mit der durch wachsende Kapitalflucht nach der Selbständigkeit erzeugten Wirtschaftskrise nahmen die Streiks an Häufigkeit und Heftigkeit zu. Die städtischen Arbeiter, welche das Rückgrat der Frei- heitsbewegung gebildet hatten, waren bereit, dafür auf die Barrikaden zu gehen, dass sich die Unabhängigkeit nicht in einer nationalen Fassade erschöpfte. Die Antwort der bürgerlichen Parteien bestand darin, Streikbrecher unter Polizeischutz einzusetzen. So wandten sich die Gewerkschaftsführer mehr und mehr von der Istiqlal ab. Schliesslich kam es zur Spaltung der Partei, und der linke Flügel nannte sich fortan UNFP (Union Nationale des Forces Populaires). In Wahrheit waren aber diese innerparteilichen Kämpfe keinesfalls ideologischer Natur. Es handelte sich um einen reinen Machtkampf, den der König selbst sowie sein Kronprinz Hassan, der heutige König Hassan II, angezettelt hatte, um eine Partei zu spalten, welche den Machtanspruch der Monarchie hätte in Frage stellen können.

Der "linke" Parteiflügel, aus dem die UNFP hervorging, bestand auch aus Opportunisten und Postenjägern, die freudig mit der Monarchie zusammenarbeiteten, wenn sie einige Brosamen vom königlichen Tisch zugeworfen bekamen.

Während geraumer Zeit gelang es dem Palast, die neuen, "militanten" Führer der Linken für sich zu gewinnen, indem er ihnen einige wichtige Posten in einer neuen königlichen Regierung anbot, die im Dezember 1958 gebildet wurde. Abdallah Ibrahim von der UNFP wurde Premierminister. Doch die Schlüsselpositionen wie das Innen- und Polizeiministerium sowie das Verteidigungsministerium blieben unter königlicher Kontrolle. Ausgerechnet zur Zeit jener UNFP-Regierung warf der damalige Kronprinz Hassan, dem die Armee unterstand, den Volksaufstand in der Rif-Gegend nieder, wobei Tausende von unschuldigen Menschen in unzähligen Dörfern jenes Gebiets abge- schlachtet wurden.

Einige Monate darauf ging es der UNFP selbst an den Kragen. Ihre Zeitungen wurden verboten, viele ihrer Funktionäre wanderten hinter Schloss und Riegel, und Ben Barka, der sich gerade im Ausland befand, durfte nicht nach Marokko zurückkehren, da man ihn beschuldigte, sich an einer Verschwörung gegen Kronprinz Hassan beteiligt zu haben. Ben Barka war Hassans Mathematiklehrer. Er trug wesentlich dazu bei, der Monarchie einen Anschein von Legitimität zu verleihen, indem er als Wortführer in der ersten "konsultativen Versammlung" des Landes (einer Art Scheinparlament ohne konkrete Befugnisse) vorschlug, Mohamed I solle doch Prinz Hassan zum Kronprinzen ernennen. Dabei war Marokko nie eine erbliche Monarchie gewesen! 1960 löste der König die Regierung auf und übernahm den Posten des Regierungschefs selbst.

Der Palast war gegen eine Entwicklung der Industrie und einen Ausbau der Städte, denn beides hätte dazu führen können, dass sich die soziale Basis für die Antimonarchisten verbreiterte. Ferner hätte es eine Stärkung des nationalen Flügels innerhalb des marokkanischen Bürgertums bewirken können.

 

 

Dies alles hätte wohl die Forderung nach einem echten Pluralismus und Parlamentarismus nach sich gezogen, und die Macht des Hofs wäre in Gefahr geraten. Aus diesen Gründen optierte der König für eine Politik, die darauf abzielte, auf dem Land grosse und kostspielige Projekte zu verwirklichen, welche den Einfluss der feudalen Gross-grundbesitzer auf Kosten der Kleinbauern stärkte.

Mächtige neue Dämme und Bewässerungsanlagen verschafften dem ländlichen Proletariat zeitweise Arbeit, doch waren sie fertiggebaut, so profitierten hauptsächlich die Grundeigentümer davon. Sie konnten nun nämlich auf grösseren und fruchtbareren ckern Exportprodukte anbauen.

Das europäische Grosskapital war mit diesem Programm hoch- zufrieden. Es hatte in Marokko drei hauptsächliche Interessen: einen Strom billiger Arbeitskräfte in die europäischen Industriestaaten, einen nahen Absatzmarkt für seine Industrieerzeugnisse sowie den Schutz bereits getätigter Investitionen. Zudem wurde der Tourismus ziel-strebig gefördert, und dieser wurde zum zweitwichtigsten Investitions-objekt. Er stimulierte den Bau von Hotels, die Produktion von Air- conditioning-Geräten, die Errichtung von Flugplätzen, die Herstellung von Bussen usw.

Das königliche Wirtschaftsprogamm wurde auch von anderen bedeutsamen Mächten voll und ganz unterstützt: von der französischen wie der amerikanischen Regierung, von französischen Industriellen- kreisen sowie nicht zuletzt von internationalen Finanzorganisationen wie der IMF und der Weltbank.

Im Februar 1961 starb König Mohamed V. Nun ging die Macht auf Hassan II über, der sich selbst zum König ausrief. In der ersten Hälfte des Jahres 1962 rückte der Sieg der Revolution in Algerien in greifbare Nähe, und in Marokko wuchs der Enthusiasmus für die Bildung eines freien und vereinigten Maghreb-Staates, der Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen umfassen sollte. Im Mai 1962 kehrte Ben Barka zurück und machte sich zum Wortführer der Bestrebungen, die darauf abzielten, den verlorenen Einfluss der UNFP wiederzugewinnen, vor allem auf dem Land.

Der Palast antwortete mit allerlei Manövern, um die politische Initiative selbst zu übernehmen. Er entwarf eine neue Verfassung, die dem Volk vorgelegt werden sollte. Die Abstimmung wurde auf den Dezember 1962 festgelegt. Sie war durch und durch manipuliert. Ben Barkas Partei rief zum Boykott auf, hatte damit aber keinerlei Erfolg: die Verfassung wurde von einer auf eine bessere Zukunft hoffenden, in Armut lebenden Bevölkerung , die nichts von wahlpolitischen Raffinessen, Abstimmungsmanipulationen und Wahlfälschungen wusste, "mit überwältigendem Mehr" angenommen.

Der Sommer 1962 war die politisch aufregendste Zeit seit der Unabhängigkeit. In verschiedenen ländlichen Gebieten übernahmen die Bauern das Land für sich selbst. In den Städten folgte eine politische Kampagne und eine Demonstration auf die andere. Die tollsten Gerüchte kursierten über eine mit algerischer Hilfe zu erreichende bevorstehende Befreiung Marokkos.

Der Palast reagierte mit offener Repression. Hunderte von UNFP- Funktionären wurden festgenommen; viele wurden gefoltert und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Ben Barka wurde, als er sich im Ausland aufhielt, die Heimkehr abermals verweigert. Nur die Studenten setzten ihre Proteste fort. Immer wieder forderten sie das Regime mit ihren Streiks, Demonstrationen und Protesten heraus. Im März 1965 gelang es den Studenten, die Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen, und es kam zu Tumulten, welche die grössten Städte des Landes, vor allem Casablanca, tagelang erschütterten. Doch die Schwäche der Opposition erleichterte den königlichen Sicherheitskräften die brutale Nieder- schlagung des Aufstands.

Etwa einen Monat später fiel Ben Barka in Frankreich einem Mordanschlag zum Opfer. Man nahm allgemein an, dass das Attentat auf das Konto des marokkanischen Königshofs ging, der mit dem Mossad sowie der französischen Staatspolizei zusammenarbeitete. In Marokko begann nun ein langer politischer Winter; für Aufregung sorgten nur die regelmässig wiederkehrenden Studentendemonstra- tionen sowie die Gegenschläge des Regimes. Erst 1970 setzte ein Tauwetter ein.

 

 

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1. Vorwort des Übersetzers

2.
Vorwort des Verfassers

3.
Meine Heimat

4.
Die ersten Jugendjahre

5.
Der Neokolonialismus

6.
Ein junger Freiheitskämpfer

7.
Die erste Revolte

8.
General Oufkir

9.
Neue Pläne für eine Revolte

10.
Ein misslungener Staatsstreich

11.
Die Flucht

12.
Das Schicksal General Dlimis

13.
Der König ist nackt !

14.
Warum das Militär ?

15.
Die islamische Welt

16.
In Schweden


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